Ob in Aufsatzsammlungen, Monografien oder Einführungswerken: Die Frage, was eigentlich als Comic zu werten sei, bestimmt einen nicht unerheblichen Teil der Sekundärliteratur und trägt mitunter absurde Züge. Sprechblasen, die ausschließlich mit waagerechtem Text versehen sein dürfen, ein bestimmter gelber Farbton als bestimmendes Element[154] oder die Ansicht, alle Comics seien grundlegend parodistischer Natur[155] – die Definitionsversuche fallen mannigfaltig aus und widersprechen zudem einander, was sich u. a. auf zwei unterschiedliche Forschungsansätze zurückführen lässt: Während ein Forschungsstrang den Comic aus kunsthistorischer Perspektive betrachtet und ihn als Teil einer andauernden Entwicklung wertet, die – je nach Position – in der Höhlenmalerei oder der Antike ihren Ursprung nahm, sehen andere Forscher in ihm ein amerikanisches Phänomen des 20. Jahrhunderts. Was von der erste Gruppe als Comic gewertet wird, bezeichnen letztere als ‚comicähnlich‘ oder ‚Comicvorgänger‘.[156] So unterschiedlich beide Ansätze auch sind – beide Forschungsrichtungen eint die Sequenz, jenes Element, das jedem Comic zwangsläufig zugrunde liegt. Bereits Will Eisner, der sich dem Medium ähnlich wie auch Scott McCloud aus der Perspektive des Zeichners annähert, verwendet sie als bestimmendes Element seiner Definition, die den Titel eines seiner Lehrbücher bildet: Comics and sequential art: Principles and practices from the legendary cartoonist.[157] Zwar gilt auch Eisners Definition als umstritten – Comicelemente wie Sprechblasen oder Heldenfiguren gelten bei ihm jedoch als fakultativ. Ein Bild ohne Sequenz darf folglich nicht als Comic bezeichnet werden.[158]
Mit Hilfe sequenzieller Bilder wird der Versuch unternommen, Bewegung und Zeit in ein räumliches Medium zu übertragen. Es findet eine Überführung der Zeitlichkeit in die Räumlichkeit statt, denn Zeit kann nicht fixiert werden. Soll der Eindruck von Bewegung und Zeit entstehen, liegt immer eine Bilderfolge zugrunde. Ein Bild dient als Trägermedium, auf dem ein Sekundenbruchteil detemporalisiert und somit festgehalten wird. Je mehr Bilder von einem zeitlichen Prozess erstellt werden, desto ‚flüssiger‘ erscheint die festgehaltene Bewegung / Zeit zu verlaufen. Comics und Filme basieren demnach auf gleichen Grundvoraussetzungen, unterliegen aber unterschiedlichen Rezeptionsprozessen: Mindestens zwei Fixpunkte in der Zeit werden vom Rezipienten abgeglichen und mit Bedeutung gefüllt. Dieser weitestgehend unbewusste Vorgang erfolgt passiv– z. B. während eines Films. Dieser Fall wird als aktive Bewegung bezeichnet, denn die Eigenleistung des Rezipienten übernimmt eine Maschine, die das Auge aktiv täuscht. Passive Bewegung hingegen beschreibt den Prozess des unbewussten Bildabgleichs und den dadurch resultierenden Eindruck von Bewegung. Die technischen und mentalen Voraussetzungen, mit deren Hilfe die Bewegungs- / Zeitwahrnehmung (Induktion) innerhalb von räumlichen und zeitlichen Medien geregelt werden, sind Hauptgegenstand des Unterkapitels II. I: Grundlagen und werden am Beispiel von Filmen, Chronofotografien (zeitliche Medien) und Bilderbogen / Comics (räumliche Medien) dargelegt. Wann erfolgt eine Bewegungsrezeption aktiv, wann passiv? Wie wird Bewegung rekonstruiert, wie viele Bilder werden zur Reproduktion verwendet? Welche Schritte sind notwendig, um zeitliche in räumliche Abbildungen zu überführen und die Wirkung beim Rezipienten zu erhalten? Zu diesen Grundlagen gehört auch der Induktionsvorgang. Zwei Bilder werden unterbewusst und unter Einbeziehung des erlernten Weltwissens miteinander verbunden. Eine temporale Selbstregulierung wird somit möglich.
Kapitel II. II: Möglichkeiten der Sequenz nimmt eine Unterscheidung zwischen der Sequenz im Einzelbild (Metapanel Typ 1, 2 und 3) und einer Panelstruktur vor. Es wird aufgezeigt, dass mithilfe der Induktion Sequenzen in Einzelbildern abgebildet werden können und ähnliche Wirkungen erzeugen wie eine normal-sequenzielle Abbildungsreihe. Zwei Typen lassen sich bestimmen; beide zeigen mehrere Handlungen in einem Bild, Personen werden folglich simultan abgebildet. Typ 1 beschreibt ein normales Bild ohne versteckter Unterteilung, Typ 2 umfasst z. B. den Querschnitt eines Gebäudes, in bzw. auf dessen Fenstern und Balkonen verschiedene Handlungen stattfinden – eine versteckte Panelstruktur ergibt sich aus dem Bild, bzw. den dort abgebildeten Gegenständen, selbst. Typ 3 kombiniert ein Panelstrukturelement mit einem Metapanel Typ 1 oder 2. Im Gegensatz zum Metapanel lassen sich in der sequenziellen Panelstruktur die Panels immer deutlich ausmachen und es wird auf eine Gitternetzstruktur zur Unterteilung der Seite / des Blattes zurückgegriffen. Verschiedene Bilder nehmen Bezug aufeinander und es wird eine Geschichte erzählt; sie stehen im Gegensatz zur zusammenhangslosen, nicht-sequenziellen, Panelstruktur.
Weiterhin werden verschiedene Theorien der Blicklenkung dargelegt und Analysekriterien für Metapanels und sequenzielle Panelstrukturen aufgestellt, die sowohl auf Scott McClouds Lehrbuch Comics machen – Alles über Comics, Manga und Graphic Novels (Hamburg 2007), Thierry Smolderens The Origins of Comics – From William Hogarth to Winsor McCay als auch den zuvor dargelegten theoretischen Aspekten der Comicgestaltung basieren. Die zuvor aufgestellte Theorie wird anhand dieser Kriterien im Kapitel II. III: Validierung der Sequenzialitätstheorie überprüft.
II.I: Grundlagen
Aktive und passive Bewegungsrezeption
Bewegte Fotos, wie man sie z. B. in der Verfilmung von Stephen Kings ES findet,[159] stellen eine physikalische Sackgasse dar, denn um ein solches Portrait zu erstellen, müsste die Möglichkeit geschaffen werden, Zeit auf einem Trägermedium festzuhalten. Selbst Filme, digitale Fotorahmen oder animierte GIFs,[160] scheitern an dieser Herausforderung. Einen Bewegungsprozess, der immer auf einem zeitlichen Ablauf basiert, magisch ‚einzufangen‘, vermögen sie ebenso wenig wie andere Reproduktionsvarianten. Sie alle verwenden Filmsequenzen, räumlich aneinandergereihte Einzelbilder die, anders als Comics / Bilderbogen, temporal auf einen Punkt / eine Fläche reproduziert werden und auf diese Weise den Eindruck von Zeit und Bewegung erzeugen. Zeit im Film kann demnach nur mit einem technischen Hilfsmittel abgebildet werden, ohne dessen zeitliche und räumliche Vorgaben die Animation zu einer Reihe von räumlichen Einzelbildern zerfallen würde. Somit stehen Filme und Comics / Bilderbogen sich nahe: Beide basieren auf Einzelbildern, die räumlich rezipiert werden können. Einzig die Überführung eines Mediums in das andere gestaltet sich problematisch.
In Comics richtig lesen – die unsichtbare Kunst verweist Scott McCloud auf den Unterschied zwischen zeitlichen und räumlichen Sequenzfolgen und verortet ihn in der Präsenz bzw. Abwesenheit von Zeit:
Ich denke, der Unterschied ist der, dass Animation zeitlich, sequenziell ist, während die Bilder im Comic räumlich aufeinanderfolgen. Jedes Einzelbild eines Films wird auf genau dieselbe Fläche projiziert … Die Leinwand … während die Einzelbilder eines Comics verschiedene Flächen einnehmen müssen. Raum ist für den Comic, was Zeit für den Film ist. Andererseits könnte man sagen, dass ein Film, den man nicht projiziert, praktisch nur ein sehr, sehr, sehr, sehr langsamer Comic ist.[161]
McClouds Anmerkung zur räumlichen Wahrnehmung eines Films, der Rezeption eines ausgerollten Filmstreifens, verdeutlicht den Ursprung beider Medien im Einzelbild. Von tatsächlicher Zeitlichkeit zu sprechen, erscheint kritisch: Auch ein Projektor simuliert Zeit nur, eingefangen wird sie nicht. Bewegung wird aber nicht ausschließlich in zeitlichen Medien (Film etc.) erzeugt – sie kann auch in räumlichen dargestellt werden.[162] Wie McCloud bereits andeutet, bestehen Filme aus aneinandergereihten Einzelbildern, denen bei der Projektion lediglich die Räumlichkeit entzogen wird. Bilderbogen und Filmen müssen somit ähnliche Mechanismen zugrunde liegen.
Soll der Eindruck von Bewegung geschaffen werden, bedarf es in der räumlichen Sequenzfolge mindestens zweier Bilder. Stehen sie nebeneinander, versucht der Rezipient sie in Relation zu setzen. Dieser Grundsatz gilt für alle visuell-sequenziellen Medien, denn Zeichnungen als auch photomechanische Reproduktionen basieren immer auf der Aneinanderreihung fixierter Momente in der Zeit, die entweder aktiv-räumlich (gedruckte Bilderfolgen etc.) oder passiv-zeitlich (z. B. Filme) rezipiert werden. Während ein isoliertes Panel mit einer Einzelbildabbildung gleichzusetzten sei und nur aufgrund seines schwarzen Rahmens überhaupt als solches interpretiert würde, scheint die eine Panelkombination aus einem weißen und einem schwarzen Bild bereits eine kleine Geschichte zu erzählen. Obwohl nur ein andersfarbiges Panel addiert wurde, wird je nach Interpretation eine Bewegung oder ein zeitlicher Verlauf reproduziert. Wandelte sich die Darstellung von Tag zu Nacht? Erlosch das Licht oder werden lediglich die beiden Farben gegenübergestellt? Wo besteht der Zusammenhang zwischen den Bildern? Gibt es ihn überhaupt oder spielt der Illustrator mit den Konventionen der Bilderfassung? Ohne weitere Informationen durch einen Begleittext oder eine Sprechblase bleibt die Interpretation subjektiv.[163]
Detemporalisierter Filmstreifen.
Beispiel 1: Detemporalisierter Filmstreifen
Die räumliche Betrachtung eines Filmstreifens gleicht strukturell den Beispielen für enge Sequenzen. Einzig die Sequenzabfolge liegt dichter beieinander, was auf die Verzeitlichung räumlicher Abbildungen zurückgeführt werden muss, denn zwei animierte Bilder in der zuvor abgebildeten Variante würden bei einer filmischen Reproduktion zu einem stroboskopartigen Effekt führen. Dem Rezipienten wäre es unmöglich, zwischen ihnen zu unterscheiden. Erst engere Bilderfolgen entfalten eine ähnliche Wirkung.[164] Soll diese filmisch reproduziert werden, bedarf es mehrere Bilder – der interpretatorische Spielraum der räumlichen Bilderfolge würde entfallen.[165]
Die oben stehende Bilderreihe unterstreicht diese Vermutung und zeigt die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Comic und Film anhand eines Filmstreifens sowie eines daraus isolierten Stills (Standbild) auf. Dieses Still zeigt eine erstarrte Person: Die Sängerin der Musikgruppe Ödland bewegt sich nicht, Mund und Haare verharren an einem fotomechanisch fixierten Punkt in der Zeit – obwohl Teil eines Films, ist Zeit nicht vorhanden und es handelt sich, wie auch in Abbildung 4, um ein unbewegliches Einzelbild. Ein größerer Ausschnitt des Filmstreifens, die Aneinanderreihung mehrerer fixierter Einzelmomente, verdeutlicht einen Bewegungsablauf. Bei passiver Rezeption (auf Papier gelesen) entsteht ein umgekehrter Effekt: Die Bewegung verlangsamt sich extrem:[166] Im Gegensatz zum abgespielten Film sieht man nicht, wie sich der Mund der Sängerin auf einem der Bilder sowohl öffnet als auch schließt – man nimmt es ob der verschiedenen Bilder an, denn jede Abbildung zeigt eine andere Bewegungsphase. Weniger offensichtlich ändert sich auch die Position einiger Haare und des Kopfes. Um die Veränderungen deutlich herauszustellen und eine dem Film entsprechende Wirkung zu erzeugen, müssten nun einige Bilder entfernt und der Filmstreifen auf seine wichtigsten Bewegungsmomente reduziert werden.
Ein weiteres Beispiel findet sich in den Silly Symphonies. Vergleicht man das Zeichentrickserial Mother Pluto[167] mit der Sunday-Paper-Comic-Strip-Fassung, die vom 14. August bis zum 16. Oktober 1938 in verschiedenen Tageszeitungen abgedruckt wurden,[168] fällt folgendes auf: Während im Film 100 Bilder verwendet werden, um einen Sprung darzustellen, teilt der Comic die Szene in drei Bilder: Vor, während und nach der Aktion. Zum Vergleich – 28 Bilder werden im Film für die Vorbereitung des Sprungs, 56 Bilder für den Sprung und 16 Bilder für die abschließende Drehung Plutos verwendet. Würde man den Filmstreifen detemporalisiert abdrucken, würde er in der Rezeption zeitlupenartig voranschreiten. Der Comic indes reproduziert die Lebhaftigkeit der Filmsequenz mit Hilfe dreier Bilder.
Räumliche und zeitliche Medien basieren demnach auf denselben Eigenschaften, verlangen, um eine ähnliche Wirkung auszulösen, unterschiedlich dichte Bilderfolgen. Während es in einer Bilderfolge demnach genügt, einige Schlüsselmomente zu illustrieren und die Übergänge vom Rezipienten mental ergänzt werden, erzeugen Filme mit weniger als 14 Bilder pro Sekunde stakkatohafte bzw. stroboskopartige Bewegungen.[169] Um flüssige Bewegungen darzustellen zu können, werden in zeitlichen Bilderfolgen infolgedessen zwischen 12 und 24+ Bilder pro Sekunde verwendet.[170] Spielt man sie in der vorgegebenen Zeit (12+ Bilder / Sekunde) ab, gelingt es dem Rezipienten nicht mehr, Einzelbilder als solche zu identifizieren und seine Wahrnehmung verschiebt sich von aktiver zu passiver Rezeption. Filmische Bilderfluten, die in einer logischen Beziehung zueinander stehen,[171] werden nicht als solche erkannt, sondern als Bewegung interpretiert.[172] Diese Beobachtungen lassen darauf schließen, dass die Detemporalisierung eines Films oder die Temporalisierung eines Bilderbogens zur Wandelung des Wahrnehmungsprozesses (optisch zu mental bzw. mental zu optisch) führt.
Beispiel 2: Chronofotografie
Die obere Abbildung zeigt eine seriell-sequenzielle Fotografie von Eadweard Muybridge, dessen Chronofotografien zu den Vorformen des Films gehören.[173] Seine Fotografien erinnern an den detemporalisierten Filmstreifen der Band Ödland, sie zeigen verschiedene Bewegungsabläufe einer Person nacheinander. Da der Mensch, wie zuvor exemplarisch dargelegt wurde, ähnliche Bilder miteinander in Verbindung zu setzen scheint, gelang es Muybridge seinen Fotografien Bewegung hinzuzufügen, ohne auf ein Abspielgerät oder eine sonstige temporale Regelung zurückzugreifen.[174] Um jeden Bewegungsablauf dokumentieren zu können, verwendete Muybridge diverse nebeneinander platzierte Fotoapparate, die nacheinander und parallel zum sich bewegenden Objekt ausgelöst wurden:[175]
Muybridge, for his part, was an established photographer when he devised his method of arresting the flow of visible motion. By setting up a battery of camera side-by-side and tripping their shutters in calibrated succession, he produced series composed of conventional, if closely timed, exposures [..].[176]
Erneut zeigt sich die eingangs aufgestellte These der Bewegungsillusion durch zwei verschiedene Bilder bestätigt: Obschon Muybridge einmal 12 und einmal 11 Fotos verwendet, genügen auch in der Chronofotografie zwei Bilder, um denselben – wenn auch weniger detaillierten – Effekt zu erzielen. Anders als im Film wird die Wahrnehmung bei beiden auf Muybridge basierenden Fotoreihen nicht mehr aktiv, durch ein technisches Gerät, getäuscht, sondern passiv. Der Rezipient sieht 12 (obere Reihe) bzw. 11 (untere Reihe) unterschiedliche Bilder desselben Menschen in nicht-temporaler Abfolge.[177]
Induktion durch Weltwissen
Neben der Zeit bzw. der mit der Zeit einhergehenden Unmöglichkeit optischer Differenzierung liegt folglich ein weiteres, aktives Phänomen dem Eindruck von Bewegung zu Grunde: Die Fähigkeit des Gehirns, Bilder bzw. optische Eindrücke unserer erlernten Wahrnehmung von der Welt unterzuordnen und sie miteinander in Beziehung zu setzen. Dieses Phänomen wird Induktion genannt:
Ich war noch nie in Marokko, aber ich vertraue einfach darauf, dass es Marokko gibt. Ich habe die Erde nicht mit eigenen Augen vom All aus gesehen, und doch glaube ich, dass sie rund ist. Ich war noch nie im Haus meines Nachbarn. Trotzdem nehme ich an, dass es wirklich ein Haus ist und nicht nur eine Kulisse! Obwohl du in diesem Panel meine Beine nicht sehen kannst, gehst du davon aus, dass sie da sind. Dabei sind sie es nicht! […] Als Kleinkinder sind wir zu diesem Glaubensakt [Anm. JA: Vorstellung von der Wirklichkeit] noch nicht fähig. Was wir nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder berühren können, ist für uns nicht da![178]
Das Wissen von der Welt wird demnach erlernt; das Gehirn, darauf konditioniert, die uns umgebene Welt mittels Induktion zu vervollständigt, setzt alle Sinneseindrücke in Relation zum erlernten Weltwissen. Gegenstände erhalten ihren Namen, ein Mensch besitzt Beine (auch wenn der Mensch oder das Haus nicht real sind, sondern gezeichnet / fotografiert wurden und wie in den Abbildungen nur als Ausschnitt präsentiert werden) und ein Mund öffnet und schließt sich wieder – Weltwissen wird erlernt und basiert demnach auf sozialer Normierung. Eine absolute Wahrheit liegt allerdings nicht vor, wie Paul Watzlawick in Wie wirklich ist die Wirklichkeit nachweist. Menschen werden ihm zufolge dazu erzogen, in einer bestimmten Art und Weise zu empfinden und Dinge so zu sehen, wie die Personen, die ihn umgeben. Abweichungen von der erlernten Norm führen nicht nur zu Ablehnung (und Re-Normierung in bestimmten Einrichtungen), sondern erzeugen Konfusion, etwa wenn sich ein Ereignis der erlernten Norm entzieht.[179] Trifft letzteres zu, so überkommt den Menschen das Bedürfnis, die erlernte Ordnung wiederherzustellen,[180] etwa bei Zufallsphänomenen, die unlogisch erscheinen wie die Werkssortierung eines Kartenspiels nach dem Mischen.[181] Aber auch Bilder, die nicht zusammenpassen oder avantgardistische Darstellungen lösen den Drang nach Ordnung aus. Für die besprochene Form der Induktion bedeutet dieses Verhalten, dass Bewegung dort auftritt, wo eine Person / ein Gegenstand etc. sich nach der Meinung des Rezipienten bewegen müsste und der Rezipient Bilder mittels Induktion zu einem stimmigen Ganzen ordnet. Demnach scheint die Frau in Eadweard Muybridges Chronofotografie die Treppe rückwärts emporzusteigen, denn der Rezipient liest das Bild der westlichen Leserichtung entsprechend.[182]
Induktion beschreibt jedoch nicht nur die bereits genannten Prozesse, sondern liegt als omnipräsentes Phänomen auch Wahrnehmungsprozessen zugrunde, deren Rekonstruktion weitaus subtiler ausfällt, wie etwa bei Einzelbildern. Bilder basieren, wenn sie gedruckt oder filmisch festgehalten wurden, auf einem Induktionsprozess: Sie bestehen aus Lichtpunkten (Film) oder Druckpunkten (Druckmedien).[183] Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht diesen Effekt: Im rechten Bildausschnitt fallen die Bildpunkte deutlich auf – wenn sich die Entfernung zum Papier vergrößert, entsteht das eigentliche Bild. Man darf also festhalten: Ob perspektivische Vervollständigungen, der Umriss von Mickey Maus, Piktogramme oder die Fähigkeiten, Bildpunkte zu einem Bild zusammenzusetzen – die Induktion hilft dabei, die Welt wahrzunehmen.[184]
Induktion und aktive Bewegung
Wie zuvor dargelegt, basiert die Wahrnehmung temporalen und räumlichen Bilderfolgen auf dem Prozess der Induktion. Lediglich die aktive Wahrnehmung unterliegt unterschiedlicher Prozesse, denn sie verschiebt sich von einer aktiven hin zu einer passiven, d. h. Filme werden ohne bewusste Eigenleistung des Rezipienten zusammengesetzt, während Comics und andere gedruckte Bildfolgen eine aktive Rezeption erfordern. Letztere soll genauer betrachtet werden. Der Rezipient nimmt in diesem Fall aktiv am Prozess teil, d. h. „willentlich und bewusst […] und die Induktion [ist] der Vermittler des Wandels, der Zeit und der Bewegung […].“[185] Dies betrifft nicht nur Bilder gleicher Art, sondern auch scheinbar nicht zusammenhängender Abbildungen, deren Wechsel abrupt erfolgt. Solche Übergänge gestalten sich im Film – wie bereits festgestellt – problematisch. Es wäre dem Gehirn nicht mehr möglich, die einzelnen Bilder miteinander in Beziehung zu setzen, selektiv-subjektive Eindrücke überwiegen den Rezeptionsprozess. In räumlichen Medien bleibt der stroboskopartige Effekt aus und kann nicht evoziert werden. Gleiches gilt für Filmstreifen, die aus dem Projektor entfernt werden. Werden sie isoliert betrachtet, schwindet das Blitzgewitter unweigerlich,[186] denn temporale Abläufe unterliegen in räumlichen Medien der Lesegeschwindigkeit des Rezipienten. Dieser wird eine Vielzahl an Bildern wahrnehmen – ein Unterschied zu einem Fotoalbum oder Bilderbuch besteht nicht. Der Hauptunterschied zwischen temporaler und räumlicher Medien tritt somit deutlich hervor: Dem Rezipienten werden in letzteren die Möglichkeit gegeben, temporale Abläufe selbst zu bestimmen und er vermag die Leserichtung eigenständig zu regulieren. Bilder erneut oder parallel zu betrachten erscheint ebenso möglich wie die gleichzeitige Erfassung zweier Bilder durch unterschiedliche Personen (parallele Rezeption). Die gesamte Zeit liegt demnach in physischer Form vor dem / den Rezipienten. Comics, so McCloud, „zerlegen Zeit und Raum zu einem abgehackten, stakkatohaften Rhythmus getrennter Augenblicke. Aber die Induktion ermöglicht es uns, diese Augenblicke zu verbinden und gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren.“[187] Obwohl das Medium zu den räumlichen zählt, findet sich in ihm, wenn Sequenzen vorhanden sind, immer auch ein gewisser zeitlicher Anteil. Dieser rückt in den Hintergrund und wird erst durch die Induktion bzw. der Eigenleistung des Lesers, der Räumlichkeit gleichwertig. McCloud beschreibt sie als Grammatik des Comics (das Vokabular stellen für ihn visuelle Symbole dar).[188] Induktion sei in „elektronischen Medien [.] konstant, größtenteils unfreiwillig und praktisch nicht wahrnehmbar. Aber die Induktion im Comic ist alles andere als konstant und ganz und gar nicht unfreiwillig!“[189]
Auf Seite 76 in Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst präsentiert Scott McCloud einen Übergang, der nicht nur Bewegung innerhalb einer optisch nachvollziehbaren Szene zeigt, sondern den Rezipienten aktiv dazu auffordert, eine Verbindung herzustellen. Im ersten Panel hält ein Mann eine Axt in der Hand und ruft: „Verrecke!!“ Ein ängstlicher zweiter erwidert: „Nein! Nein!“ In Panel 2 steht das Soundword „Eeyaa!!“ im Bildmittelpunkt über einer Großstadtsilhouette und weist auf einen Schrei hin.[190] Werden beide Panels isoliert betrachtet, zeigt Panel 1 zwar einen Mann, der möglicherweise einen Mord begeht (die Induktion lässt den Rezipienten zumindest davon ausgehen); Panel 2 wäre trotz des Schreis ohne Kontext. Zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten, etwa auch ein Todesschrei, böten sich an. Erst eine gemeinsame Betrachtung beider Panels lässt den Leser andere Schlüsse ziehen: Ein Mord wird begangen. Nicht etwa vom Autor selbst, sondern vom Leser.[191] Die eigentliche Handlung geschieht in nicht-bildlicher Form im weißen Raum zwischen den Panels (Rinnstein). Sie stellt die direkte Folge eines Induktionsprozesses dar, der beide Panels miteinander in Verbindung setzt und von jedem Leser unterschiedlich wahrgenommen wird:
Vom Werfen eines Balles bis zum Ende eines Planeten: Die Bewusste, freiwillige Induktion des Lesers ist das primäre Mittel des Comics zur Simulation von Zeit und Bewegung. Die Induktion im Comic erzeugt eine lediglich von der Literatur übertroffene Vertrautheit, einen stillschweigenden, geheimen Kontrakt zwischen Autor und Leser. Wie der Autor diesen Kontrakt erfüllt, ist eine Sache sowohl der Kunst als auch der Technik.[192]
Induktion verkörpert demnach einen Grundbestandteil des graphischen, sequenziellen Erzählens. Ob Comic, Bilderbogen oder Bilderbuch: Stehen Bilder nebeneinander, werden sie mit Hilfe der Induktion verbunden. Michael Hein beschreibt die nicht-bildliche Handlung wie folgt:
Die komplexe und durchaus konventionsgebundene Struktur, die innerhalb des Strips, als der Einheit der Form, die verschiedenartigen Bildzeichen unübersehbar in Ordnung bringt, organisiert auf diese Weise die Vermittlung von Zeit- und Raumwerten in der Abbildung. Weil framework [Anm. JA: Panelstruktur] die Sequenz der Panels kenntlich macht als Struktur, als absichtsvolle Anordnung und nicht als vom Zufall oder der Laune eines Setzers abhängige, vermag die Abbildung über die Grenzen des einzelnen Panels hinaus einen Zusammenhang hinzuweisen: Sie tritt gleichsam in die Zwischenräume über. Auch wenn ein strip für gewöhnlich zwischen zwei Panels nichts zeigt als weißen Leerraum – wenn die einander benachbarten Panels nicht überhaupt nur durch Linien getrennt sind –, scheint dennoch ausgemacht, daß Sequenz, Zeitsprung und/oder Ortswechsel zwischen den Panels bedeutet, daß Leerraum oder Trennlinie den Betrachter zur Ergänzung der Abbildung in der Vorstellung anhalten, schließlich, daß die Repräsentation einer fragmentierten Kontinualität zusammengesetzt sind, welche in gewissem Sinne seine Handlung darstellt.[193]
Der weiße Raum innerhalb einer Panelstruktur entsteht demnach keineswegs zufällig, sondern wird vom Zeichner / Autor gezielt dazu verwendet, Handlung zu erzeugen.[194] Für Hein bedeutet die bewusste Verwendung der Induktion, dass es „zwischen den Panels mehr zu verstehen [gibt], als in den Panels gezeigt wird.“[195]
Techniken und Verteilung der Induktion
Laut McCloud werden in Comics sechs Formen der Induktion verwendet:[196]
- (1) Von Augenblick zu Augenblick,
- (2) Von Handlung zu Handlung
- (3) Von Gegenstand zu Gegenstand
- (4) Von Szene zu Szene
- (5) Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt
- (6) Paralogie
(1) Von Augenblick zu Augenblick zeigt einen Wimpernschlag oder ein Objekt, das sich dem Rezipienten nähert:[197] „Eine bestimmte Handlung wird in einer Reihe von Aufeinanderfolgenden Momenten dargestellt.“[198] (2) Von Handlung zu Handlung beschreibt „ein einzelnes Subjekt bei verschiedenen Handlungen“.[199] (3) Von Gegenstand zu Gegenstand präsentiert eine Bewegung, die eine Veränderung innerhalb eines Gedankens oder einer Szene stattfinden lässt und deren Panels in einer logischen Beziehung zueinander stehen.[200] (4) Von Szene zu Szene nutzt „erhebliche Raum- und Zeitdifferenzen [die] übersprungen werden – [Sie erfordern] deduktives Denken.“[201] (5) Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt lässt Zeit außer Acht und richtet den Fokus auf „Aspekte eines Ortes, einer Idee oder einer Stimmung“.[202] – Eine Szene wird genauer betrachtet. Es können z. B. Palmen, Sonne, Sand, Sandburgen, Surfer und das Meer gezeigt werden, um dem Rezipienten einen umfassenderen Eindruck von einem Ort etc. zu vermitteln. Als letzte Form nennt McCloud die Paralogie. Dieser der Logik entlehnte Begriff beschreibt die Bezugslosigkeit mehrerer Bilder untereinander. Logik scheint außer Kraft gesetzt.[203] Induktionsform (6) muss dabei klar als zusammenhangslos herausgestellt werden – fixiert ein Zeichner aber zusammenhangslose Bilder, entsteht ein Schein-Zusammenhang, den McCloud als „Alchemie“ bezeichnet.[204] Wie bereits am Beispiel Watzlawicks dargelegt, sucht sich der Rezipient seinen logischen Zusammenhang, erfindet seine eigene Logik und induziert Sinn – oder er lehnt die gezeigte Bilderfolge ab.
Wozu aber bedarf es einer Untersuchung von Comics und Bilderbogen nach ihren Induktionsmethoden? Sie ermöglicht es, die ‚Grammatik‘ des Comics miteinander zu vergleichen. McClouds Analyse eines durchschnittlichen Jack-Kirby-Comics zeigt folgende Verteilungen: (2) 65 %, (3) 20 % und (4) 15 %. Von Handlung zu Handlung (2) überwiegt erheblich.[205] Diese Ergebnisse sind dabei keineswegs singulär, sondern erscheinen als Konstante und lassen sich in diversen Comics belegen (experimentelle Projekte werden ausgeklammert): Ob X‑Men, Betty & Veronica, Maus oder Donald Duck – die Ergebnisse stimmen mehrheitlich überein; europäische Comics variieren leicht,[206] was auf eine minimal andere bild- und handlungsästhetische Kultur schließen lässt, wofür ein eigene Untersuchung spricht, die im Rahmen der Masterarbeit des hiesigen Autors zu Christian August Vulpius im Comic vorgenommen wurde (BB. 1 und BB. 2 beziehen sich auf den Berliner Bilderbogen Nr. 6, Rinaldo Rinaldini, von Ernst Litfaß und den Neuruppiner Bilderbogen Nr. 2170, Rinaldo Rinaldini, aus dem Hause Oehmigke und Riemschneider.):[207]
[Es] wird deutlich, wie unterschiedlich BB. 1 und BB. 2 erzählen. Während BB. 1 von der Induktionsmethode Von Szene zu Szene dominiert wird, dominiert in BB. 2 die Methode Von Gegenstand zu Gegenstand, Übergänge Von Szene zu Szene sind kaum vertreten, während ein neuer Übergang, Von Handlung zu Handlung, erstmals vorhanden ist, der die Comics ab dem 20. Jahrhundert dominieren wird. Diese Veränderung in der Bildlichkeit haben jedoch nichts mit dem Erzähltext des jeweiligen Bilderbogens zu tun (er ist – bis auf wenige Abweichungen – identisch), sondern liegen an der jeweiligen Auffassung, wie der Text zu illustrieren sei. Während BB. 1 den Text vor allem szenisch auffasst, man also versucht, die einzelnen Strophen als Einzelszenen zu interpretieren, wird in BB. 2 der Text als Ganzes gesehen. Hier wird mit Hilfe der Bilder stückweise Handlung dargestellt. Die Bilder sind eine genaue Verbildlichung des Rinaldo- Liedes und die verwendeten Induktionsmethoden tragen dazu bei, dass BB. 2 auch ohne Text eine verständliche Geschichte erzählt: die kürzeren Übergänge lassen die Illusion von bewegten Bildern entstehen.[208]
Ein Wandel legt sich dar: Während 1806 noch vor allem einzelne Szenen im Mittelpunkt der Illustration standen, rücken Gegenstand und Handlung 1835/40 in den Vordergrund. Es stellt sich folglich die Frage, ob das bei Rinaldo Rinaldini beobachtete Phänomen auch in anderen Inhalten zu finden sind und ob sich zwischen 1835/40 und 1865 (Max und Moritz) eine weitere Annäherung an die heute üblichen Standards beobachten lässt.
II.II: Möglichkeiten der Sequenz
Sequenz im Einzelbild: Das Metapanel / Metabild
Sobald mehrere Bilder nebeneinander stehen, wird die Frage nach der Temporalität aufgeworfen. Wie schnell liest man eine Bildsequenz, wenn ein technisches Gerät sie nicht vorherbestimmt? Daniele Barbieri verweist in Zeit und Rhythmus in der Bilderzählung auf Gérard Genette, der davon ausgeht, dass die Lesezeit der Erzählzeit entspricht, der Leser mit gleichbleibender Geschwindigkeit einen Roman / Text liest. Diese Vermutungen treffen auch auf die Musik, das Theater und den Film zu, Medien, deren zeitliche Abläufe nicht mehr vom Rezipienten selbst gesteuert werden, außer die Rezeption geschieht mit Hilfe eines technischen Hilfsmittels zur temporalen Manipulation (Videoplayer, Plattenspieler etc.). Problematisch erscheint die Bildgeschichte, denn hier unterscheidet sich die Lesegeschwindigkeit zu stark vom Roman / Text oder dem Film; sie wird sowohl vom begleitenden Text (fakultativ) als auch vom Bild selbst bestimmt:[209]
Ein Panel von normalem Ausmaß, welches ein absehbares Ereignis ohne Worte beschreibt, ist sicherlich schneller zu lesen als ein sehr großes und komplexes Panel, das ein völlig unvorhergesehenes Ereignis darstellt und dabei von Dialogen und verbalen Bemerkungen begleitet wird. Diese Variabilität macht es unmöglich, eine gleichförmige Einheit in Analogie zum Textabschnitt bzw. zur ‚Zeilenzahl‘ zu bestimmen, wie Genette sie für die Literatur vorschlägt.[210]
Günter Dammann verwendet zur Analyse einer Bildergeschichte ein 3‑Ebenen-Modell, wobei die erste Ebene den dargestellten Inhalt des Einzelpanels, die zweite Ebene die dargestellten Inhalte in der Sukzession von Panels und die dritte Ebene die Varianz in Größe und Gestaltung der Panels beschreibt.[211] Das Panel als kleinste Einheit einer Bildgeschichte umfasst bereits diverse Möglichkeiten der temporalen Regulierung (sowohl in Größe als auch Inhalt) und findet sich schlussendlich doch in einem Verband aus weiteren Panels wieder, die ihrerseits eine Panelstruktur bilden (die sich letztendlich auf mehrere zusammengehörige Seiten erstrecken kann). Folglich bestimmt in der Bildgeschichte immer die Erzählung als Ganzes das Tempo der Rezeption.[212]
Das Einzelbild selbst ist nicht-sequenziell, wie im Unterpunkt Aktive und passive Bewegungsrezeption ausführlich dargelegt wurde. Ob Fotografie, Gemälde, Zeichnung etc. Ihr Bildinhalt zeigt – so der erste Anschein – einen temporal fixierten, also starren Moment. Wie aber wird dieser Bildinhalt erfasst? Zwar handelt es sich bei Bilderfolgen, deren Inhalt einen Bewegungsablauf nahelegt / abbildet um detemporalisierte, eher räumliche Abfolgen, doch weisen auch sie Zeit auf. Jene Zeit, die der Rezipient benötigt, um erst das Bild selbst, dann die Sequenz zu erfassen. Betrachtet man noch einmal das Einzelbild, lässt es sich in drei zeitliche Unterscheidungen aufteilen: „1.) die geschichtliche Zeit des Werkes (in seiner Materialität und Dinglichkeit), 2.) die Zeit der Bildrezeption und 3.) die Zeit der bildlichen Darstellung […].“[213] Für die Bilderbogen- und Comicforschung erscheint lediglich Punkt 2 relevant. Die Rezeptionszeit eines Einzelbildes beeinflusst gleichsam auch die Gesamtzeit eines Bilderbogens, denn die Zeiten addieren sich, werden durch Einzelbild, beigefügten Text sowie die Zeit aller anderen Panels bestimmt. Dem ungeachtet führt auch das Einzelbild selbst zu Problemen, denn im Gegensatz zu einem Roman, dessen Anfang und Ende feststehen (obschon es auch hier Ausnahmen gibt), gestaltet sich die Rezeption eines Bildes diffus. Hans Holländer beschreibt in Zeit-Zeichen der Malerei dieses Phänomen:
Wo soll er eigentlich anfangen? Von links nach rechts, von vorne nach hinten, von unten nach oben oder vom Hintergrund zum Vordergrund, oder vielleicht auch von der Mitte her, oder mit bestimmten Merkmalen, die sich ungleichmäßig verteilen, oder mit der ikonographischen Bestimmung? Das ist von Fall zu Fall verschieden, eine allgemeine Regel gibt es nicht. Bei einem Text hat man die Leserichtung. Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Leserichtungen, aber sie sorgen dafür, daß der Leser sich in den Zeichen und ihren Kombinationen nicht verirrt. Die Schriftzeichen und dann eben die Wörter sind auf der Textseite simultan gegenwärtig, genau wie die Zeichen eines Bildes. Die Simultanität ist also durchaus kein trennendes Merkmal, sondern eines, das alle Texte und Bilder gemeinsam haben. Sie befinden sich aber in unterschiedlichen Ordnungszuständen. Sie sind verschieden determiniert und haben differenzierte Spiel- und Leseregeln.[214]
Folglich existiert kein festgeschriebener Ablauf der Bildrezeption. Während der eine Leser Bilder nur flüchtig betrachtet, widmet sich ein anderer jedem Detail. Die Zeit des Verweilens auf einem Bild (also der Betrachtungszeit[215]) richtet sich nach der betrachtenden Person. Und doch, so Grave, scheint es möglich zu sein, eine Bildbetrachtung zu steuern, denn ein Kunstwerk unterliegt immer auch einer Planung durch den Zeichner:
Am entschiedensten hat Kurt Badt in seiner Streitschrift gegen Hans Sedlmayer eine Methode der Bildinterpretation eingefordert, die den Vorgaben folgt, durch die das Bild den Wahrnehmungsprozess des Betrachters steuert. Mit großem Nachdruck hat Badt die These vertreten, dass die klassische abendländische Malerei die Reihenfolge der Bildbetrachtung zu lenken gewusst habe. Die Bildstruktur sei auf jene Grundorientierung zwischen links und rechts, oben und unten abgestimmt, die auch unsere Alltagswahrnehmung fundiere, und weise eine Grundorientierung auf. Ein geordneter, durchdachter Bildaufbau impliziere daher immer auch eine ‚Folgeweisung, der der Interpret sich zu fügen hat‘. Das Bild gebe aber bei der Erschließung der Darstellung nicht allein eine geordnete Reihenfolge vor, sondern finde zudem durch eine Strukturierung in ‚Kompositionsanfang‘, ‚Entwicklung des Themas‘ und ‚Schluß‘ zu einer eigenen Geschlossenheit.[216]
Folgt man Badt, orientiert sich bereits der Bildaufbau an der möglichen Bildbetrachtung. Der Rezipient wäre demnach durch zeichnerische Mittel steuerbar. Zwar bezieht sich Badt auf die klassische Malerei – ob seine Theorie überhaupt zutrifft und ob sie sich dann auch auf Bildergeschichten anwenden lässt, sei dahingestellt – jedoch trifft eine Aussage ohne Zweifel zu: Die westliche Leserichtung eines Bildes findet immer von links nach rechts statt. Dennoch erscheint diese Lenkung ungenau. Wird ein bedeutender Moment oder eine Stadt abgebildet, tritt die Leserichtung vorerst in den Hintergrund.[217] Soll mit einem Bild aber eine (komplexere) Geschichte erzählt werden, stößt der Urheber schnell an künstlerische Grenzen, die es zu überwinden gilt. Er muss die Aufmerksamkeit des Rezipienten geschickt durch das Bild lenken, eine Möglichkeit finden, um die traditionelle Leserichtung oder die freie Entscheidung des Lesers zu umgehen. Möglich wäre dies mit Hilfe eines begleitenden Textes, denn jedes Bild ist, wie Michel Butor darlegt, mit einem Text versehen. Ob nun Titel, Name des Malers, Name des Auftraggebers, Widmung etc. – Bilder sind niemals frei von Text und doch wird dieser oft in seiner Wirkung unterschätzt:
Durch den Titel wird nicht nur die kulturelle Stellung des Werkes verändert, sondern auch der gesamte Kontext, in dem es sich uns zeigt: die Bedeutung dieser bestimmten Anordnung von Formen und Farben verändern sich während des mitunter sehr langsam fortschreitenden Verstehens dieser wenigen Wörter, doch auch die Anordnung selbst verändert sich.[218]
Er legt zudem dar, wie sorgfältig bestimmte Titel gewählt wurden und wie sie die Wahrnehmung des Werks beeinflussen:
Da ist [..] ein Werk von 1953 mit der Nummer 616. Es sind einander überlagernde, senkrecht stehende Rechtecke mit durchscheinenden Farben. Darauf einige gewundene Formen. Zunächst fallen mir rechts eine Art dunkle Schlange auf und zwischen zwei Gruppen drei übereinanderliegende Bögen, die Brücken gleichen (man muß das zu dem Bild Nummer 546 von 1931 mit dem Titel Brücke in Beziehung setzen.), und darunter drei senkrechte Stäbe. Doch Kandinsky hat das Bild Zwei grüne Punkte genannt. Sobald ich den Titel gelesen habe, suche ich danach und finde etwas rechts von der Mitte in der Nähe des oberen Randes zwei gleichartige zweifarbige Kreise: ihr oberer grüner Teil ist etwas größer als ihr violetter Teil; doch da sie ‚grün‘ genannt werden, muß ich dieses Violett als eine Transformation des Grün deuten, die durch das Rechteckbewirkt wird, das sie an dieser Stelle überdeckt. Die gesamte Komposition scheint damit von diesen beiden Elementen durchstrahlt, den einzigen, die in ihr doppelt vorkommen.[219]
Butor beschreibt die Beeinflussung des Rezipienten durch den Künstler. Ist ihm der Titel des Bildes unbekannt, wird er das Bild anders wahrnehmen;[220] allein das Wissen über grüne Punkte, die auch nur zu etwa zwei Dritteln grün sind, beeinflusst den gesamten Deutungsprozess und setzt einen Prozess in Gang, der den Rezipienten das Bild nach eben diesen Punkten absuchen lässt. Sogar deutlich violette Teile unterliegen einer farblichen Umdeutung.[221] Spätere Betrachtungen des Bildes werden nun von diesen Punkten geprägt sein. Sie fallen dem Betrachter unmittelbar auf. Erst später wird der Blick über das Bild wandern – eine Lenkung des Rezipienten findet statt.
Was aber geschieht, wenn ein weiterer Text hinzukommt? In der klassischen Malerei war es nicht unüblich, Texte dem Werk beizufügen, viele von ihnen blieben dem Betrachter allerdings verborgen, denn sie befanden sich auf der Rückseite des Bildes.[222] Andere Bilder weisen eine Legende auf: So fügte Paul Klee seinen Bildern Texte hinzu, die über oder unter dem Bild, manchmal auch im Bild selbst standen und eine bedeutende Wirkung auf den Rezipienten ausübten, etwa den Blick des Rezipienten über das Bild lenkten.[223] Steht der Text nicht außerhalb des Bildes, sondern in ihm, verschiebt sich die Wirkung: Der Text wird erkannt und gelesen, er tritt vor das Bild und ist doch Teil von ihm, denn er führt den Rezipienten durch das Bild, während er die Wahrnehmung desselben beeinflusst und einen Teil der Zeit bestimmt.
Und doch bedarf es weit weniger, um den Rezipienten durch ein Bild zu führen. William Hogarth verwendete sowohl Buchstaben als auch die westliche Leserichtung, um Einzelbilder sequenziell zu gestalten, Vorgänge, die Thierry Smolderen anhand einer Illustration aus Five Days‘ Peregrination, Breakfast at Stoke (Buchstabenführung), sowie A Harlot’s Progress, Plate 1 (westliche Leserichtung), erläutert. Beide Illustrationen stammen von 1732. Hogarth markiert in Breakfast at Stoke mit Hilfe der Buchstaben A bis F verschiedene Figuren, die unter der Illustrationen mit einem Text versehen wurden.[224] Bilder dieser Art werden, so Smolderen, als slow read im Gegensatz zum comictypischen fast read gelesen:
If we stick with the most generic definitions, there is no doubt that Hogarth’s series belongs to the category of sequential art. Yet in terms of the effort that is required to link the images there is something that doesn’t quite ring true. Instead of the fluid, quasi-automatic reading of a typical comic strip, we have, on the contrary, a slow read, one that invited the eye to lose itself in the details and to return to them in order to generate comparisons, inferences, and endless paraphrases. Hogarth’s series demand genuine interpretive effort, even detective work, on the part of a reader.[225]
Abgesehen von der langsamen Lesart jener zweifelsohne sequenziellen Bilder weist er jedoch auch auf den Umstand hin, dass Hogarth‘ Breakfast at Stoke sich von heutigen Comics unterscheidet und diese zugleich vorwegnimmt. Um die Bilder von Hogarth erfassen zu können, musste der Rezipient „vielschichtigen visuellen Texte, die mit ihren Anspielungen auf widersprüchliche Repräsentationssysteme gesättigt waren“ (Übersetzung JA)[226] erfassen. Hogarths Art, Stilistiken miteinander zu verknüpfen und ironische Kontraste zu verwenden, fände sich, so Smolderen, bei so unterschiedlichen Comiczeichnern wie Richard Felton Outcault, Winsor McCay, George Herriman oder auch Hergé.[227]
Das zweite Beispiel, Breakfast at Stoke, verwendet anstelle der Buchstaben lediglich die westliche Leserichtung und diverse Hinweise, um Sequenzialität zu erzeugen. Plate 1 erscheint auf den ersten Blick ein Bild ohne Sequenz zu sein. Bei genauer Betrachtung offenbart sich jedoch die Sequenz:
The first image of the series […] provides an excellent example of this device: situated at the far left of the image, the inscription on the wagon refers to Molly’s past (she is from Scotland), while the central scene defindes the present. Her career as a courtesan is announced by the presence of the well-known libertine, Colonel Charteris, who observes the scene while standing in the entryway. Finally, at the far right of the image, the dead goose symbolically announces the predictable outcome of this story. This last detail illustrates how narration and digression interpenetrate in Hogarth’s composition: the label attached to the neck of the goose indicates that it was destined for a beloved cousin of Molly, who clearly missed the rendezvous (narrative detail); but the goose also males reference, by a visual and verbal metaphor, to the compromised innocence of the heroine, who, at this very moment, extends her long, white neck toward her corrupter, as if she is to be sacrificed.[228]
Hogarth verwendet demnach eine Unterteilung seines Bildes in Vergangenheit (links), Gegenwart (mittlerer Bereich) und Zukunft (rechts) und schafft somit ein Bild, das mittels der Induktionsmethode Von Szene zu Szene drei zeitliche Ebenen miteinander verknüpft.
Wie sich zeigt, genügt es folglich, ein Bild in Abschnitte zu unterteilen und diese gegebenenfalls mit Buchstaben oder Nummerierungen zu versehen (idealerweise verknüpft mit einer dazugehörigen Legende, die Detailinformationen zur jeweiligen ‚Bildstation‘ bietet), um eine Form der Sequenzialität zu erzeugen. Fortan wird der Rezipient in seiner temporalen Wahrnehmung und seiner Leserichtung vom Autor / Zeichner fremdgesteuert. Exemplarisch zeigt sich dies, bezogen auf Bilderbogen, in Abbildung 11, einer visuellen Umsetzung der Romanze aus Rinaldo Rinaldini, einem bekannten Volkslied:
Im 19. Jahrhunderts [sic!] entstehen einige Bilderbogen, die Rinaldo Rinaldini thematisieren. […] Zwei der vier Bilderbogen greifen jedoch nicht auf den kompletten Roman als Grundlage zurück, sie bearbeiten das ‚Räuberlied‘, von Vulpius zuerst 1800 in der Zeitschrift Janus unter dem Titel ‚Romanzen und Lieder über Rinaldini‘ publiziert. Das Rinaldo-Lied, eine Romanze, findet sich darüber hinaus im Zehnten Buch des Vulpius’schen Romans, das ein Jahr nach der Erstveröffentlichung beigefügt wird.[229]
Acht teils versteckte Stationen warten darauf, vom Rezipienten mittels slow read entdeckt zu werden. Jede zeigt eine Strophe des Rinaldo-Liedes. Der Rezipient wird demzufolge vom Zeichner in seiner Rezeptionsweise beeinflusst; er lenkt, stärker noch als Kandinsky, Klee oder Hogarth, den Blick des Betrachters. Dieser wird vom Urheber bei der Rezeption an die Hand genommen; ihm wird eine intendierte Erfassung des Bildinhalts aufgezwungen. Der Unterschied zu Kandinsky und Klee besteht im Rinaldo-Bogen zudem im Vorhandensein mehrerer Inhalte innerhalb des Bildes, einen Umstand, den sich der Bilderbogenzeichner mit Hogarth teilt.
Während also Kandinsky in Zwei grüne Punkte den Blick des Rezipienten mit Hilfe des Titels durch das Bild lenkt, sein Inhalt aber keine Sequenz aufweist, zeigt Hogarth‘ Breakfast at Stoke eine Unterteilung des Bildes in Einzelstationen durch Buchstaben. Der Bilderbogen von Ernst Litfaß hingegen fügt den Buchstaben bzw. Zahlen Figuren hinzu, die einander ähneln und sich aufeinander beziehen: Die Protagonisten Rosa und Rinaldo Rinaldini finden sich in den Stationen 1, 3 und 8, letzterer darüber hinaus auch in 5 und (vermutlich) 7 (es fällt schwer, seinen Hut deutlich zu erkennen). Im Gegensatz zu den Bildern von Hogarth muss der Rezipient nicht einmal von der Existenz des Volksliedes / Romans um Rinaldo Rinaldini Kenntnis besitzen, um den Inhalt des Bogens erfassen zu können. Im Gegensatz zu Klee, Kandinsky und Hogarth lässt sich der Bilderbogen darüber hinaus auch mittels einer Panelstruktur unterteilen. Bogen, die diese Anforderung (Einzelbild, sequenziell, verschiedene Protagonisten, die sich aufeinander beziehen) erfüllen, sind rudimentär sequenziell und werden fortan Metapanel genannt, einem der Comicforschung entlehnten Begriff, der auf Will Eisner zurückgeht, denn auch Eisner sieht die Notwendigkeit der Blicklenkung:
In sequential art the artist must, from the outset, secure control of the reader’s attention and dictate the sequence in which the reader will follow the narrative. […] The most important obstacle to surmount is the tendency of the reader’s eye to wander. On any given page, for example, there is absolutely no way in which the artist can prevent the reading of the last panel before the first. […] In comics there are actually two ‘frames’: the total page […], on which there are any number of panels, and the panel itself, within which the narrative action unfolds. They are the controlling devices in sequential art.[230]
Das Metapanel hingegen definiert er wie folgt: „One important facet of the full-page frame (here called a meta-panel, or super-panel) is that planning the breakdown of the plot and action into page segments becomes the first order of business.”[231] Der Zeichner einer Bildergeschichte legt bereits zu Beginn seiner Arbeit die Struktur der Seite fest. Hier zeigt sich eine Parallele zu den eingangs vermuteten temporalen Postulaten. Die Zeit im Metapanel ist unmittelbar mit der Sequenz verknüpft:
So, wie Bilder und die zwischen ihnen liegenden Zeitintervalle mithilfe der Induktion die Illusion von Zeit erzeugen, wird auch durch Wörter Zeit konstituiert – denn Wörter stellen etwas dar, was nur in der Zeit existieren kann: Schall. Alle Handlungen und Reaktionen in einem Panel [..] können zusammen gut und gerne eine halbe Minute dauern. […] Stellen wir uns die Zeit als Seil vor. Jeder Zentimeter ist eine Sekunde.[232]
Es muss jedoch angemerkt werden, dass McCloud mit ‚Wörter‘ auf Sprachblaseninhalte verweist. Der Rinaldo-Bogen beweist dagegen, dass diese Wörter auch außerhalb des Bildinhaltes existieren können – z. B. in Form eines Legendentextes, eines Erzähltextes etc.
Metapanels können in Bilderbogen auch weit kunstvollere Formen annehmen. Eisner benennt alle sequenziellen Bilder, deren Inhalt nicht mittels einer expliziten Panelstruktur unterteilt ist, als Metapanel.[233] Abbildung 12 präsentiert nun einen typischen Märchenbogen, wie man ihn in der Reihe der Münchener Bilderbogen findet. Es handelt sich hier um das Märchen vom Froschkönig. Wie auch der Rinaldo-Bogen (Abbildung 11) füllt in Der Froschkönig das Bild eine Seite; ein begleitender, nicht-nummerierter Text lässt den Rezipienten die abgebildete Szenenfolge bestimmen. Ähnliche Vorgehensweisen finden sich in den Simultanbildern des 15. und 16. Jahrhunderts wie etwa der Turiner Passion.[234] Während der Rinaldo-Bogen den Blick des Rezipienten durch das Bild leitet und unter Zuhilfenahme von Nummern unmittelbar bestimmt, welches Element zu welcher Strophe rezipiert werden soll, findet sich im Bogen Otto Speckters ein auf den Brüdern Grimm basierender Text, der die Geschichte des Froschkönigs erzählend zusammenfasst und sich in zwei Textfeldern vorfindet. Die Illustration der Geschichte darf als sequenziell gewertet werden, denn sie führt den Rezipienten Von Szene zu Szene durch das Bild. Wie auch die Geschichte vom bösen Friederich aus Hoffmanns Struwwelpeter[235] wird das Bild von unten nach oben gelesen. Im untersten Teil des Bildes befindet sich die Königstochter. Sie spielt mit ihrem goldenen Ball, der ihr zu entgleiten droht (der Froschkönig wartet – etwas versteckt – rechts unter einem Baum / Busch, wo er in ergriffener Pose die Szene beobachtet). Im oberen Teil des Bildes (Turm und Landschaft im Hintergrund) sieht man den König, der seiner Tochter und dem zurückverwandelten Frosch Heinrich nachwinkt. Die Burgfenster und Balkone zeigen weitere Szenen aus der Geschichte, das Steinornament an der Balkonbrüstung trägt den Titel des Bilderbogens. Otto Speckter fügte demnach die einzelnen Szenen des Märchens in die Fenster und umliegenden Orte des Bogens ein und umgeht einer Nummerierung oder herkömmlichen Panelstruktur. Hervorzuheben sei, dass einzelne Szenen auch außerhalb des Schlosses stattfinden, was den Bogen unzweifelhaft als Metapanel herausstellt.[236] Ein Metapanel dieser Art wird als Typ 2 bezeichnet, Rinaldo Rinaldini als Typ 1. Ein weiterer Metapaneltyp findet sich in der Kombination aus Typ 1 bzw. 2 mit einem eingefügten Panelstrukturelement, der fortan Typ 3 genannt wird.
Sequenz in der Panelstruktur
Eine weitere Form der Sequenz ist die Panelstruktur selbst. Hierbei handelt es sich um eine Abfolge von Einzelbildern, die in Beziehung zueinander stehen und ebenfalls durch Induktion den Eindruck von Bewegung erzeugen. Alle zuvor beschriebenen temporalen und visuellen Vorgänge, die sich im Metapanel bestimmen lassen, gelten auch hier. Eine Panelstruktur zeigt dem Rezipienten folglich mehrere Einzelbilder, deren Inhalt in Verbindung zueinander steht. Eine Panelstruktur an sich belegt jedoch noch keine Sequenzialität, denn mehrere Bilder zu einem Thema stehen nicht zwangsläufig in sequenziellem Zusammenhang und auch Einzelbilder, die mittels einer solchen zusammengehalten werden – aber keinen inhaltlichen Zusammenhang aufweisen, sind weiterhin als nicht sequenziell zu werten.
Betrachtet man Bogen wie Humoristische Thierscenen von Georg Philipp Schmitt, verdeutlicht sich, dass die Aufteilung in mehrere Bilder nicht gleichbedeutend mit einer Sequenz sein muss. Hier befinden sich zwar mehrere Bilder in sehr losem Zusammenhang – in diesem Fall sind es anthropomorphe Tiere, die Lieder und Gedichte illustrieren –, sie beziehen sich aber nicht aufeinander. Ein sequenzieller Zusammenhang besteht nicht. Anders verhält es sich in der sequenziellen Panelstruktur.
Ein prototypisches Beispiel für eine ausgeprägte Sequenz stellt der Neuruppiner Bilderbogen (Gustav Kühn) Nr. 9848 von 1910, Der Eisbär und die Eskimos (Korpus 96) dar. Fünfzehn Bilder werden von einem an Wilhelm Busch erinnernden Text begleitet. Die Eskimos Jan und Pite jagen Seehunde, stellen sich bei ihrer Jagd aber sehr ungeschickt an und Pite stürzt in ein Eisloch. Jan gelingt es nicht, seinen Freund aus eigener Kraft zu retten. Unbemerkt nährt sich ein Eisbär, der den überforderten Eskimo fressen will, sich jedoch an ihm verbeißt und seinen Kiefer nicht mehr öffnen kann. Mit seiner Hilfe gelingt es Jan, Piete zu befreien. Gemeinsam tötet man das hilflose Tier. Abbildung 14 zeigt einen Ausschnitt des Bogens. Zu sehen sind Jan und der Eisbär. Der Unterschied zwischen den beiden Bogen tritt deutlich hervor: Während die Thierscenen sich als zusammenhangslose Einzelbilder entpuppen, entfalten die Eskimos eine beinahe kinematographische Wirkung und erinnern an den Filmausschnitt der Band Ödland oder die Fotografien Eadweard Muybridges. Die Induktionsmethode Von Augenblick zu Augenblick und Von Handlung zu Handlung finden Verwendung, nahezu jede Bewegung wird festgehalten; was nicht abgebildet wurde, kann ohne große Eigenleistung vom Rezipienten ergänzt werden. Anhand der beiden Beispiele zeigt sich: Eine Sequenz innerhalb einer Bildfolge besteht dann, wenn die einzelnen Bilder durch eine Induktionsmethode miteinander in Zusammenhang stehen. Die Paralogie findet sich zwar auch in sequenziellen Bogen, jedoch sollte sie nicht, wie z. B. in den Humoristischen Thierszenen, Hauptinduktionsmethode sein.
Analysekriterien
Sequenzielle Bildergeschichten unterliegen, wie zuvor dargelegt wurde, einer einzigartigen Erzählweise. Wird eine Geschichte mit mehreren Bildern erzählt, muss Bewegung und Zeit dem Erzählrhythmus untergeordnet und der Eindruck von Bewegung mittels gezielter Auslassung zur Induktionsverstärkung erzeugt werden. Jedes Bild – ob Metapanel oder Teil einer Panelstruktur – lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf bestimmte Aspekte und Abfolgen innerhalb des Illustration. Eine Analyse der Bogen nach Handlung, historischem Kontext, Bildinhalt, Text, Panelstruktur und Induktionsmethode liegt nahe; weitere Kriterien werden Scott McClouds Comics machen – Alles über Comics, Manga und Graphic Novels entlehnt.[237] McClouds Anleitung zur Comicgestaltung widmet sich, wie auch Will Eisners Comic and Sequential Art und Graphic Storytelling and Visual Narrative (beide: New York / London 2008) den einzelnen Aspekten eines Comics und entwirft ein Konstruktionsmodell, aus dem sich Analysekriterien für sequenzielle Panelstrukturen (und eingeschränkt auch Metapanels) ableiten lassen.
Die Gestaltung einer sequenziellen Bildergeschichte erfolgt in fünf Arbeitsschritten, von McCloud als Augenblick, Bildausschnitt, Gestaltung, Text und Lesefluss bezeichnet.[238] Sie stehen in keiner vorgegebenen Reihenfolge, sondern werden teilweise parallel bearbeitet. So werden z. B. „Entscheidungen, welche die Auswahl der Szenen, des Bildausschnitts und die Gestaltung des Leseflusses betreffen, [.] üblicherweise im ersten Planungsstadium vorgenommen. Während man an der Gestaltung der Bilder und des Textes meist bis zum Schluss arbeitet.“[239] Diese Arbeitsweise liegt in der Verschiedenheit der Vorlagen begründet: wie auch aktuelle Comics werden Bilderbogen teilweise ohne Textvorlage gestaltet – oft adaptieren sich jedoch bereits bestehende Texte und werden einer vorbestimmten Struktur unterworfen. In diesem Fall schlägt McCloud vor, das Layout (Ausschnitt, Lesefluss) auf Grundlage des Scripts (Augenblick, Text, Ausschnitt) zu gestalten, um anschließend die Reinzeichnung (Bild) anzufertigen.[240]
Der Augenblick beschreibt die zeitliche Aufteilung eines Comics, wie sie bereits im Unterkapitel Aktive und passive Bewegungsrezeption anhand des Musikvideos von Ödland und der Chronofotografie Eadweard Muybridges beschrieben wurden. Ein Bewegungsablauf wird in mehrere Schritte zerlegt und auf wenige Augenblicke reduziert, sobald eine Detemporalisierung erfolgt um auch in räumliche Medien die Illusion einer natürlichen Bewegung aufrechtzuerhalten. Diese Reduzierung bestimmt nicht nur die Bewegungsphasen, sondern auch die Gesamtstruktur der Geschichte:
Entfernt man ein beliebiges Panel, ändert sich der ganze Zusammenhang. […] Wenn es euch allein um Klarheit geht … solltet ihr die Aufteilung der Story wie ein Bilderrätsel begreifen, bei dem man die Punkte verbinden muss. Entfernt ihr einen Punkt, ändert sich die ganze Figur. Ändert sich nichts, war der Punkt vielleicht von vornherein unnötig.[241]
McCloud verdeutlicht die Notwendigkeit der Reduktion auf die wichtigsten Bewegungseinheiten und verweist auf ihre Beziehung untereinander. Zu viele Panels für den gleichen zeitlichen Ablauf erzielen einen ähnlichen Effekt wie in der Chronofotografie oder auf dem Filmstreifen. Zu wenige Panels erzeugen keine oder stakkatohafte Verläufe. Eine Geschichte lässt sich demnach in seine Bestandteile zerlegen und es entstehen Panelgruppen zu jedem Handlungsabschnitt. Je mehr Bilder in einer Panelgruppe verwendet werden, desto langsamer erscheint die dargestellte Handlung.[242] Innerhalb dieser Planungsphase werden folglich auch die Induktionsmethoden festgelegt, denn sie verbinden, wie bereits ausführlich dargelegt, Panels miteinander.
Ein weiterer Schritt, Der Bildausschnitt, entscheidet über Perspektive, Bilddetails, Komposition u. dgl. mehr im Einzelbild. Um nicht von der Geschichte abzulenken, rät McCloud zur Beibehaltung einer Perspektive über mehrere Panels hinweg. Zu den häufig verwendeten Perspektiven in einer Bildergeschichte zählen Schuss-Gegenschuss (z. B. in Dialogszenen), Augenhöhe sowie Frosch- und Vogelperspektive.[243] Ebenfalls wird der Handlungsort bestimmt; er nimmt oft ein gesondertes Panel zu Beginn einer Geschichte ein und wird Establishing Shot genannt.[244] Besonders für das Metapanel Typ 1 und 2 ist dieser Teilaspekt von besonderer Bedeutung: er bestimmt Form, Panelstruktur / Rahmen und Handlungsort des Comics gleichermaßen. In einem normalen Panel wird zudem noch der Rahmen festgelegt und ein Bildmittelpunkt bestimmt. Bei ihm kann es sich z. B. um wichtige Personen, die Bewegung eines Gegenstandes oder ein leeres Zentrum handeln.[245] Die Gestaltung wandelt den vorher nur strukturell erstellten Comic zu einem gezeichneten. Ein Zeichenstil wird gewählt, die Bilder werden gestaltet. Umgebungen, Haltungen, Ausdrücke und / oder Details entstehen.[246] Es folgt der Text: Im Comic fakultativ und im Bilderbogen oft vorbestimmt, unterliegt er im 19. Jahrhundert etwas anderen Kriterien als im modernen Comic, denn die Grundlagen finden sich oftmals in Märchen, Liedern usw.[247] Dialogtexte lassen sich selten bestimmen und stehen, wie auch der Erzähltext, unter dem Bild. In der Analyse wird deshalb nach dem Ursprung des Textes gesucht und Varianten verglichen.
Der Lesefluss eines Comics bestimmt im Gegensatz zur Panelauswahl in Der Augenblick die exakte Abfolge der Panels in der Seitenarchitektur – die zuvor gestalteten Bilder werden zueinander in Beziehung gesetzt und dem Zeichner kommt die Aufgabe zu, alle störenden Elemente zu entfernen bzw. umzugestalten. Im Comic des 20. Jahrhunderts richtet sich der Lesefluss nach der westlichen Leserichtung, es wird demnach von links nach rechts sowie von oben nach unten gelesen;[248] Bilderbogen und sequenzielle Grafiken des 19. Jahrhunderts stellen diese Übereinkunft vermutlich noch in Frage. Eine einheitliche Leserichtung für Comics könnte sich erst im Laufe der Zeit herausbilden. Aber auch der Bildinhalt wird in diesem Schritt beeinflusst: Wie in Aktive und passive Bewegungsrezeption angedeutet, nimmt das Auge in einer Sequenz Bewegung und Veränderung wahr, während Hintergründe verschwinden.[249]
Aus diesen Planungsschritten lassen sich folgende Analysekriterien erheben:
1.)
Welche Panel- und Narrationsgruppen sind vorhanden?
Wie viele Panels werden verwendet?
Welche Induktionsmethoden lassen sich bestimmen (Erhebungen über die Auslassung, das Nicht-Sehen erfordert eine weitere Untersuchung und kann, ob des Umfangs, in diesem Rahmen nicht vorgenommen werden)?
2.)
Welche Perspektive bestimmt das Einzelbild?
Wo findet die Handlung statt?
Welcher Rahmen wird verwendet und was wird im Panel fokussiert?
3.)
Welcher Stil wird verwendet? Auffälligkeiten in Umgebungen, Haltungen, Ausdrücke und / oder Details der Panels. Einbeziehung der McCloud-Realismuspyramide.
Wie wurde das Bild gestaltet?
4.)
Was wird beschrieben?
Wurde eine Geschichte adaptiert oder neu gestaltet?
Bei adaptierten Stoffen: Historischer Kontext.
5.)
Bestimmung der Leserichtung.
Wie wird der Blick durch das Bild gelenkt?
Weiterhin beschreibt McCloud im Kapitel Die Macht des Wortes sieben Formen der Wort-Bild-Kombinationen.[250] Das Verhältnis zwischen Bild und Text kann demnach textlastig, bildlastig, gedoppelt (Doppelung von Bild und Text), überschnitten (Überschneidung von Bild und Text: „Ein Teil der Information wird von Bild und Text gemeinsam übermittelt, andere Teile jeweils von einem allein“[251]), verschränkt / korrelativ (Information ist nur durch beide Elemente vermittelbar), parallel (Text und Bild hängen nicht zusammen) oder eine Montage (Text als Teil des Bildes) sein;[252] diese Annahmen gelten, unabhängig von ihrer Struktur, auch für Bilderbogen.
Belege:
[154] Vgl. Balzer, Jens und Lambert Wiesing: Outcault. Die Erfindung des Comic. Bochum u. Essen 2010. S. 44 u. 16.
[155] Vgl. hierzu: Frahm, Ole: Die Sprache des Comics. Hamburg 2010.
[156] Vgl. zu den verschiedenen Ansätzen auch: Sackmann, Eckart: Comic. Kommentierte Definition. http://www.comicforschung.de/pdf/dc10_6‑9.pdf [konsultiert am 29.11.2016]. Und: Meskin, Aaron: Defining Comics? http://www.jstor.org/stable/4622260 [konsultiert am 29.11.2016].
[157] Eisner, Will: Comics and sequential art. Principles and practices from the legendary cartoonist. New York u. London: 2008. Eisners Definition darf dennoch als problematisch benannt werden, denn unter sequential art würden auch Animationsfilme fallen, die dem Comic historisch zwar nahe stehen, sich aber auf technischer Ebene unterscheiden. Zudem kommt der Begriff Art einer Wertung gleich, die der künstlerischen Breite des Mediums nicht gerecht wird.
[158] Verwenden Einzelbilder dennoch Sprechblasen oder Helden, so kann es sich u. U. um einen Cartoon handeln.
[159] Vgl. Wallace, Tommy Lee: Stephen Kings ES. USA 1990. [00:13:40].
[160] Bei animierten GIFs handelt es sich um ein digitales Format, das mehrere Einzelbilder in einer Bilddatei speichert und den Eindruck erweckt, ein Einzelbild zu sein. Besonders stechen sogenannte Cinemagraphs hervor, GIFs, die wie ein Foto wirken, in dem sich aber trotzdem ein Detail bewegt wie z. B. ein Ventilator im Bildhintergrund, während alle weiteren beweglichen Objekte stillstehen.
[161] McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg 2001. S. 15.
[162] Anzumerken sei, dass Medien immer Zeit und Raum bei der Rezeption beanspruchen. Wird von zeitlichen bzw. räumlichen Medien gesprochen, sind sie demnach hauptsächlich, aber nicht durchgehend der jeweiligen Kategorie zuzuordnen.
[163] Vgl. hierzu auch Fragen der Zeit von Robert Gernhardt. In: Gernhardt, Robert: Wörtersee. Frankfurt am Main. 1981. S. 301. Gernhardt fügt einer ähnlichen Panelkonstruktion einige Sätze hinzu und füllt die sonst leeren Panels mit Bedeutung.
[164] Interpretatorischer Spielraum wie in der räumlichen Variante entfällt.
[165] Der Animator wird sich gezwungen sehen, entweder ein Fade-Out zu kreieren oder einen abrupten Farbwechsel vorzunehmen.
[166] Das Video zum Vergleich findet sich hier: Dumesnil, Maximilien und Lorenzo Papace: The Well. https://vimeo.com/10883508 [konsultiert am 27.03.2019].
[167] Vgl. Hand, David: Silly Symphonies: Mother Pluto. Walt Disney Productions / United Artists 1936.
[168] Vgl. Taliaferro, Al u. Merrill DeMaris: Mother Pluto. In: Silly Symphonies Vol. 2. Featuring The Three Little Pigs. From The Disney Vaults! The Complete Comics: 1935 – 1939. Hrsg. von Ted Adams. San Diego 2016 (= The Library Of American Comics). S. 180 – 190.
[169] Stummfilmklassiker wurden noch mit 12, 3D-Filme z. T. mit 48 Bildern pro Sekunde gedreht. Aus diesem Grund erscheinen alte Filme oft sehr stakkatohaft. Sollen hingegen einzelne Bilder abgebildet werden, muss die Abspielgeschwindigkeit manipuliert werden. Soll ein Bild vier Sekunden bei einer Reproduktionsrate von 24 Bildern pro Sekunde gezeigt werden, muss es 96 Bilder lang zu sehen sein.
[170] Werden weniger als 24 Bilder pro Sekunde verwendet, muss sich die Abspielgeschwindigkeit anpassen. Werden 12 Bilder auf einem 24 B / S Film aufgenommen, erfolgen Doppelungen.
[171] Zur logischen Beziehung als Merkmal der Bewegung siehe auch: Ramachandran, Vilayanur S. u. Stuart M. Anstis: Die Wahrnehmung von Scheinbewegung. In: Spektrum der Wissenschaft 8 (1986).
[172] Bereits vor der Erfindung des Films war dieses Phänomen bekannt und wurde in sehr ähnlicher Weise zur Unterhaltung verwendet. Filmvorgänger wie das Phenakistoskop, das Zoetrop, das Praxinoskop (drei Gerätschaften, die durch Rotation eines Bildstreifens Bewegung simulieren), das Daumenkino oder die Scheibe am Bindfaden waren weit verbreitet. Eine Sonderstellung genießt die Scheibe am Bindfaden, denn sie besteht aus nur zwei Bildern und es verdeutlicht sich ein Problem der zeitlich gesteuerten Zweibildanimation: Während auf einer Seite ein Vogel abgebildet wurde, findet sich auf der anderen ein Käfig. Bei schneller Drehung entsteht der Eindruck, jener Vogel wäre im Käfig gefangen – zwei Bilder ergeben demnach den Eindruck eines Bildes – Bewegung findet nicht statt.
[173] Wird z. B. Muybridges obere Bilderfolge nachträglich animiert – jedes Bild darf dabei 0,08 Sekunden lang zu sehen sein – entsteht ein flüssiger Bewegungsablauf. Zur Chronofotografie Eadweard Muybridges siehe auch: Braun, Alexander: Winsor McCay. 1869 – 1934. Comics, Filme, Träume. Bonn 2012. S. 59 – 67.
[174] Smolderen verweist in The Origins of Comics – From William Hogarth to Winsor McCay auf die wichtige Stellung Muybridges innerhalb der Comicgeschichte. 1878 begann der Illustrator Arthur Burdett Frost zusammen mit Thomas Eakins an der Pennsylvania Academy of Fine Arts zu studieren. Eakins war vor allem an den technischen Fortschritten der Fotografie interessiert, die seiner Meinung nach Informationen zu Bewegungsabläufen boten, die ein Illustrator nicht ignorieren dürfe. Frost und Eakins diskutierten vor allem über Muybridges, was zu einem Cartoon von Frost führte, der sich – mit seltsamer Interpunktion und Rechtschreibung – über Zeichner der alten Schule und ihr Verharren in alte Zeichenmuster lustig machte. Stuff and Nonsense von 1884 wurde mit den Worten „Said this artist: ‚Now dont you suppose An intelligent man like me knows how a horse ought to go Yet you say I dont know and believe what a photograph shows:‘“ versehen und zeigt einen Künstler, der in althergebrachter Weise Pferde im Galopp malte und dabei skeptisch eine Chronofotografie betrachtet, während dieselbe unter dem Text noch einmal detailliert abgedruckt wurde.
(Vgl. Smolderen, Thierry: The Origins Of Comics. From Hogarth to Winsor McCay. Translated by Bart Beaty and Nick Nguyen. Jackson 2014. S. 119 – 120)
[175] Jener von Muybridge genutzte fotografische Aufbau fand später auch im Film erneut Verwendung. Ob Dario Argento in Opera oder die Wachowski-Geschwister in Matrix: Wird eine Möglichkeit der Detemporalisierung gesucht, soll die Zeit für einen kurzen Moment (scheinbar) außer Kraft gesetzt werden (vgl. Argento, Dario: Opera. USA u. Italien 1988. und Wachowski, Lana und Andrew Wachowski: Matrix. USA 1999.), werden mehrere Fotokameras aufgestellt um räumlich versetzte Abbildung desselben Objekts zu erschaffen. In Matrix werden die Bilder gleichzeitig aufgenommen, in Opera kurz nacheinander. Erstere Variante führt zu einem Effekt eingefrorener Zeit und einer Kamera, die sich der Temporalität zu widersetzen scheint; Argentos Aufbau hingegen verlangsamt die Zeit erheblich.
[176] Smith, Joel: More than One: Sources of Serialism. In: Record of the Art Museum. Record of the Art Museum, Princeton University 67 (2008). S. 20.
[177] Selbstverständlich ist die Temporalität auch hier noch vorhanden, jedoch wird sie nun nicht mehr von einer technischen Gerätschaft (Videorecorder, DVD-Player etc.) im Einklang mit der Raumzeit gesteuert, sondern richtet sich nach der Lesegeschwindigkeit des Rezipienten.
[178] McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 69 f.
[179] Vgl. Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. München 2009. S. 29 ff.
[180] Vergleiche auch Reaktionen auf moderne Kunst und die Frage, was auf den entsprechenden Bildern zu sehen sei.
[181] Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? S. 67 f.
[182] Muybridges Chronofotografie begeht den Fehler, die westliche Leserichtung bei der Konstruktion des Sequenzaufbaus nicht zu beachten.
[183] Vgl. McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 73.
[184] Vgl. ebd. S. 71 f.
[185] McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 73.
[186] Zur Ähnlichkeit zwischen Comic und Film: Lacassin, Francis: The Comic Strip and Film Language. In: Film Quarterly Vol. 26, 1 (Autumn, 1972). S. 11–23.
[187] McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 75.
[188] Ebd. S. 75.
[189] Ebd. S. 76.
[190] Ebd. S. 76
[191] Vgl. ebd. S. 76
[192] Ebd. S. 77.
[193] Hein, Michael: Zwischen Panel und Strip. Auf der Suche nach der ausgelassenen Zeit. In: Hein, Michael, Michael Hüners et. al.: Ästhetik des Comic. Berlin 2002. S. 54 f.
[194] Hier zeigt sich auch der Grund, warum Bilderbogenausgaben wie man sie etwa aus dem Albatros oder dem Anaconda Verlag kennt, zur Rezeption ungeeignet sind, drucken sie doch teilweise nur ein Panel pro Seite ab oder sortieren die Panels neu.
[195] Hein, Michael: Zwischen Panel und Strip. S. 56 f.
[196] McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 78 ff.
[197] Vgl. ebd. S. 78.
[198] McCloud, Scott: Comics machen. Alles über Comics, Manga und Graphic Novels. Hamburg 2007. S. 15.
[199] McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 78.
[200] Vgl. ebd. S. 79.
[201] Ebd. S. 79.
[202] Ebd. S. 80.
[203] Vgl. ebd. S. 80.
[204] Vgl. ebd. S. 81.
[205] Vgl. ebd. S. 83.
[206] Vgl. ebd. S. 83 f.
[207] Vgl. Auringer, Julian: Vulpius im Kontext der Comic-Forschung. S. 40.
[208] Ebd. S. 41.
[209] Vgl. Barbieri, Daniele: Zeit und Rhythmus in der Bilderzählung. In: Hein, Michael (Hg.) et. al.: Ästhetik des Comic. Berlin 2002. S. 126.
[210] Ebd. S. 126.
[211] Vgl. Dammann, Günter: Temporale Strukturen des Erzählens im Comic. In: Hein, Michael und Michael Hüners et. al.: Ästhetik des Comic. Berlin 2002. S. 92.
[212] Vgl. ebd. S. 96 f.
[213] Grave, Johannes: Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes. In: Gamper, Michael und Helmut Hühn: Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Hannover 2014. S. 53.
[214] Holländer, Hans: Zeit-Zeichen der Malerei. In: Hein, Michael, Michael Hüners et. al.: Ästhetik des Comic. Berlin 2002. S. 104.
[215] Vgl. Grave, Johannes: Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes. In: Gamper, Michael und Helmut Hühn: Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Hannover 2014. S. 54.
[216] Ebd. S. 56 f.
[217] Was nicht bedeutet, dass sie völlig irrelevant wäre, denn auch ein Stadtbild oder eine Krönungszeremonie wird ohne Frage einem gewissen Bildaufbau folgen, der sich z. B. am Goldenen Schnitt orientiert und bei letzterem Beispiel die zu krönende Person so platziert, dass sie dem Rezipienten als erstes auffallen wird, während Untergebene weniger deutlich zu erkennen sind.
[218] Butor, Michel: Die Wörter in der Malerei. Ein Essay. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel. Frankfurt am Main 1992. S. 15.
[219] Ebd. S. 19 f,.
[220] Darüber hinaus zeigt Butor eindrucksvoll, wie sehr er versucht, das Bild seinem Wissen von der Welt unterzuordnen.
[221] Vgl. hierzu auch die The Dress Kontroverse aus dem Jahr 2015. Ford, Dana: What color is this dress? http://edition.cnn.com/2015/02/26/us/blue-black-white-gold-dress/ [konsultiert am 29.08.2016].
[222] Butor, Michel: Die Wörter in der Malerei. S. 22 f.
[223] Ebd. S. 24.
[224] Vgl. Smolderen, Thierry: The Origins of Comics. S. 8.
[225] Ebd. S. 8.
[226] Ebd. S. 9.
[227] Vgl. ebd. S. 9.
[228] Ebd. S. 13.
[229] Auringer, Julian: Rinaldo Rinaldini als Comic-Held. In: Deutsche Comicforschung 2017. Hrsg. von Eckart Sackmann. Leipzig 2016. S. 30.
[230] Eisner, Will: Comics and sequential art. S. 40 f.
[231] Ebd. S. 65.
[232] McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 104.
[233] Vgl. Eisner, Will: Comics and sequential art. S. 66 – 81.
[234] Vgl. Sackmann, Eckart: Memlings ‚Turiner Passion‘. In: Deutsche Comicforschung 2007. Hrsg. von Eckart Sackmann. Hildesheim 2006. S. 2 – 15.
[235] Vgl. Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder. Nach der Druckfassung von 1859 unter der Berücksichtigung der Handschriften herausgegeben von Peter von Matt. Stuttgart 2009. S. 12 – 13.
[236] Dietrich Grünewald wies mich auf die Ähnlichkeit dieser Bogen mit Papiertheatern hin, die ebenfalls einen großen Teil der Bilderbogen ausmachen. Figuren und Bühnen können ausgeschnitten und zur Kinderunterhaltung verwendet werden. Bilderbogen wie Der Froschkönig nach Grimm. (Korpus 15) darf man demnach als gezeichnete Papiertheater betrachten, in denen die Figuren bereits die Handlung umsetzen. Vgl. hierzu auch: Grünewald, Dietrich: Vom Umgang mit … Papiertheater. Berlin 1993. Und: Grünewald, Dietrich: Theater auf Papier. Anmerkungen zum Verhältnis von Bildgeschichte und Theater. In: Franz, Kurt und Günter Lange (Hg.): Dramatische Formen. Beiträge zu Geschichte, Theorie und Praxis. Baltmannsweiler 2007. S. 74 – 98.
[237] Juliane Blank entwirft in ihrer Dissertation Literaturadaptionen im Comic. Ein modulares Analysemodell ein weiteres Analysemodell für Comics, das auf Grundlage einer literarischen Vorlage basiert. Sie nennt als Analysekategorien des Prätextes die Kanonizität, Gattungsspezifika des Prätextes und Sprachgrenze. Für die Oberfläche des Comics schlägt sie Technik (künstlerischer Anspruch der Gestaltung), Panelrahmung, Ästhetik (Realismusgrad der künstlerischen Darstellung), Leitmotive, Sprachgestalt, Intra- und intermediale Bezüge auf der Oberfläche des Comics (Bezüge zu anderen Medienprodukten) vor. Die Handlung wird bei ihr mit den Kriterien Kürzung und Kompression, Ergänzungen, die Handlungszeit des Comics, Gliederung (z. B. nach Kapitel und Szenen) analysiert. Eine weitere Analysekategorie stellt die Figurendarstellung dar. Dazu zählen Anlehnungen an bestimmte Typen oder konkrete Personen, Mimik und Gestik sowie Figurenspezifische formale Details, Figurenspezifische Sprache. Die Szenerie wird von ihr vor allem mit der Raumdarstellung im Allgemeinen, Entwerfen von konkreten Räumen oder Landschaften, Innenräume und ihre Ausstattung, Einstellungsgrößen, Blickwinkel, Fokalisierung sowie Verteilung des Textmaterials untersucht, weitere Kategorien sind die Analyse des Paratextes auf Nennung von Prätext-AutoInnen, Adaptierenden, Titel und Gattungsangaben, Widmungen und Danksagungen, Vor- und Nachworte, Andersartige Zusatztexte sowie der Kontext, der auf Verlag, Ausgangspunkt der Adaption, Adaptierende sowie die Zielgruppe hin untersucht wird.
Obschon die von Blank gewählten Analysekriterien ohne Zweifel auf Literaturadaptionen (bzw. Übertragungen) zutreffen, sind sie nur bedingt auf Bilderbogen anwendbar. Dies liegt u. a. am beschränkten Umfang der Bogen – so finden sich im Korpus nur wenige serielle Bogen, von denen das Kasperl-Theater (Korpus 413 – 418) mit seinen sechs Stücken am umfangreichsten ausfällt. Literaturadaptionen im Comic finden sich sonst zumeist auf einzelnen Blättern. Jene Kriterien, die auf Einblattadaptionen anwendbar wären, lassen sich indes nicht mit anderen, nicht-adaptierten Bogen in Einklang bringen, wieder andere Kriterien, etwa die Kanonizität kann nur stark modifiziert (in diesem Fall als historischer Kontext) Verwendung finden. Obschon sich die Analysekriterien für Bilderbogen vor allem an Scott McCloud orientieren, sind Überschneidungen zu Juliane Blank demnach möglich.
Vgl. Blank, Juliane: Literaturadaptionen im Comic. Ein modulares Analysemodell. Hrsg. von Monika Schmitz-Emans u. Dietrich Grünewald. Berlin 2015 (= Bildnarrative. Studien zu Comics und Bilderzählungen 1). S. 84 – 127.
[238] Vgl. McCloud, Scott: Comics machen. S. 10 – 37.
[239] Ebd. S. 37.
[240] Vgl. ebd. S. 38.
[241] Ebd. S. 13.
[242] Vgl. ebd. S. 14.
[243] Vgl. ebd. S. 20.
[244] Vgl. ebd. S. 22.
[245] Vgl. ebd. 24 f.
[246] Vgl. ebd. S. 28 f.
[247] Vgl. zur Textplanung in modernen Comics: McCloud, Scott: Comics machen. Alles über Comics, Manga und Graphic Novels. Hamburg 2007. S. 30 – 31; 128 – 154.
[248] Vgl. McCloud, Scott: Comics machen. S. 32.
[249] Vgl. ebd. S. 34 f.
[250] Vgl. ebd. S. 130.
[251] Ebd. S. 130.
[252] Vgl. ebd. S. 130.