Die alte französische Sage vom Ritter mit dem blauen Barte, der seine Frauen ermordete, war immer wieder Gegenstand der Bilderbogenillustration und schien sich im 19. Jahrhundert einer großen Beliebtheit zu erfreuen.[1] Diverse Autoren bearbeiteten den Stoff; zu den bekanntesten zählen Tieck, Bechstein und Perrault, doch auch den Brüdern Grimm war die Sage nicht unbekannt. Ihre Version findet sich in der Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1812. Später verzichtete man aufgrund der deutlichen Ähnlichkeit zu La Barbe Bleu (Perrault) auf das Märchen, dessen Themen – je nach Fassung – Treue, Vertrauen, Gier und die dunklen Kehrseiten dieser Eigenschaften sind.[2] Ein Blick in aktuelle Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen, die sich explizit an ein Vorlesepublikum richten, zeigt, dass Blaubart trotz seines grausigen Inhalts noch immer zu den beliebtesten Märchen gehört und weiterhin den Grimms zugeschrieben wird.[3] Für die Bilderbogenforschung besonders interessant sind nicht zuletzt die Anmerkungen der Brüder Grimm. Neben einem Abriss zur Fassungsgeschichte wird auf ein Fliegendes Blatt aus Schweden verwiesen, welches sich um 1810 im Umlauf befand und textgeschichtlich auf Perrault zurückgeht.[4]
Weitaus unübersichtlicher gestaltet sich die Textgeschichte der deutschen Bilderbogenbearbeitungen im Verhältnis zu den verschiedenen Märchenfassungen, denn auch in Deutschland nahm man sich immer wieder der französischen Sage an. Im Korpus befinden sich drei verschiedene Blaubart-Bogen:
- Ritter Blaubart: Neue Magdeburger Bilderbogen 613, um 1905.
- Ritter Blaubart. Gezeichnet von O. Brausewetter: Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt 153, zw. 1867/71.
- Blaubart: Münchener Bilderbogen 95, nach 1871.
Obschon sich die Bogen hauptsächlich an Bechstein orientieren, fließen auch die Varianten von Grimm und Perrault in den begleitenden Text ein. Ludwig Bechsteins Einfluss lässt sich exemplarisch an den ersten Sätzen der Bilderbogen verdeutlichen:
Ludwig Bechstein’s Märchenbuch. | Neue Magdeburger Bilderbogen Nr. 613: Ritter Blaubart. | Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 153: Ritter Blaubart. Gezeichnet von O. Brausewetter. |
Münchener Bilderbogen Nr. 95: Blaubart. |
„Es war einmal ein gewaltiger Rittersmann, der hatte viel Geld und Gut, und lebte auf seinem Schloß herrlich und in Freuden. Er hatte einen blauen Bart, davon man ihn nur Ritter Blaubart nannte, obschon er eigentlich anders hieß, aber sein wahrer Name ist verloren gegangen. Dieser Ritter hatte sich schon mehr als einmal verheirathet, allein man hatte gehört, daß alle seine Frauen schnell nach einander gestorben seien, ohne daß man eigentlich ihre Krankheit erfahren hatte.“[5] | „Vor alten Zeiten lebte auf seiner Burg ein Ritter herrlich und voller Freuden. Da er einen langen blauen Bart trug, so nannte man ihn Blaubart.
Der Ritter war schon oft verheiratet, doch starben seine Frauen stets nach kurzer Zeit. Nun vermählte er sich abermals mit einem Edelfräulein.“[6] |
„Es lebte einst ein gewaltiger Rittersmann, den man nur den Ritter Blaubart nannte, weil sein Bart von blauer Farbe war; der hatte schon 6 Frauen gehabt, welche schnell nach einander gestorben waren. […]“[7] | „Es war einmal ein Rittersmann, der war gar reich begütert und lebte auf seinem Schlosse herrlich und in Freuden. Er hatte einen großen blauen Bart, weshalb ihn die Leute nur den Ritter Blaubart nannten.
Blaubart war schon mehrere Male verheiratet, allein seine Frauen starben immer schnell nach einander und Niemand erfuhr an was, oder wohin sie gekommen“[8] |
Insbesondere der Münchener Bilderbogen Nr. 95 überrascht durch eine erhebliche Ähnlichkeit zu Bechsteins Das Märchen vom Ritter Blaubart, obschon ausführlichere Beschreibungen ob des geringeren Platzes wegfallen. Selbst im Neuen Magdeburger Bilderbogen, dessen Text aufgrund seiner engen Umrahmung großen Beschränkungen unterliegt, bleiben Fragmente bestehen.
Weitaus größere Unterschiede lassen sich anhand der Geschwisterzahl der Gattin und des damit beeinflussten Finales sowie in der Darstellung der Leichenkammer ausmachen.[9] Bereits in den unterschiedlichen Sagen und Märchenfassungen lassen sich mindestens drei unterschiedliche Verwandtschaftsbeziehungen finden:
- drei Brüder, eine Schwester[10]
- zwei Schwestern und einige Brüder[11]
- eine Schwester und zwei Brüder.[12]
Vier Geschwister (zwei Brüder, zwei Schwestern) waren, den Brüdern Grimm zur Folge, Ursprung des Geschwisterdurcheinanders:
Die französische Sage kennt noch eine Schwester der Frau, Anne, als jene sterben soll, gewährt Blaubart eine halbe Viertelstunde, da schickt sie die Anne auf den Thurm läßt sie nach den Brüdern sehen und ruft ihr von Zeit zu Zeit in ihrer Angst zu: „Anne, ma sœur Anne, ne vois tu rien venir?“, noch ganz volksmäßig erscheinen die Antworten derselben,
„Je ne vois le soleil qui poudroie,
et l’herbe, qui verdoie.“
In den deutschen Erzählungen, wenigstens wie wir sie gehört haben, fehlt dies gänzlich; […].[13]
Eine zweite Schwester tritt auch bei Bechstein in Erscheinung und sie wird im Münchener sowie Neuen Magdeburger Bilderbogen erwähnt.[14] Ihre Rolle innerhalb des Märchens beeinflusst die moralische Grundaussage erheblich,[15] denn beide Bilderbogenbearbeitungen benennen sie als Anstifterin des Verbotsübertritts. Ohne das Drängen einer anderen Person wäre es fraglich, ob Blaubarts Befehle von seiner Frau angezweifelt worden wären. Anstelle dreier Geschwister treten im Deutsche Bilderbogen nur die beiden Brüder auf. Das Verbot, die Kammer zu betreten, wird somit, wie auch bei Grimm und Perrault, eigenmächtig und aus Habgier übertreten.[16] In diesem Zusammenhang überraschen die drei von Grimm, Bechstein und Perrault abweichenden Enden der Bilderbogen, welche zumindest in einem Bogen moralisch fragwürdig erscheinen. Während der Münchener und der Neue Magdeburger Bilderbogen vom Verfall des Schlosses / der Burg berichten, erbt die treulose Ehefrau im Deutschen Bilderbogen Blaubarts Reichtümer. Letztere Variante erzählt demzufolge von einer habgierigen Person, deren Gier sich tatsächlich auszahlt. Der ungeliebte Gatte wird ermordet und die gesellschaftliche Stellung seiner gierigen und treulosen Ehefrau bleibt erhalten.
Perrault indes erklärt die ungehörige Gattin zur Erbin eines beträchtlichen Vermögens, erwähnt aber auch eine kurzzeitige Traumatisierung derselben:
Die arme Frau war nahezu ebenso tot wie ihr Mann; sie hatte nicht die Kraft, sich zu erheben und ihre Brüder zu umarmen.
Wie sich herausstellte, besaß Blaubart keine Erben, so daß seine Frau Herrin über all seine Güter wurde. Sie verwandte einen Teil davon, um ihrer Schwester Anne die Heirat mit einem jungen Edelmann […] zu ermöglichen, […] und den Rest, um sich selbst mit einem sehr ehrenwerten Mann zu verheiraten, der sich die böse Zeit, die sie mit Blaubart verbracht hatte, vergessen ließ.[17]
Dem Deutschen Bilderbogen ähnlich, erklären die Brüder Grimm sie zur Erbin einiger Reichtümer – ihr restliches Leben verbringt sie bei ihren Brüdern.[18] Nur Bechstein lässt die folgenden Ereignisse weitestgehend offen, ein unüberwindbares Trauma beeinflusst ihr weiteres Leben erheblich: „Ein kurzes Gefecht und Ritter Blaubart lag todt am Boden. Die Frau war erlöst, konnte aber die Folgen ihrer Neugier nicht verwinden.“[19]
Nicht zuletzt die Leichenkammer scheint dieser Traumatisierung zugrunde zu liegen. Auch sie wird in den Märchen verschiedenartig portraitiert. Bechstein deutet das Blutbad nur an: „ein entsetzlicher Anblick! – die blutigen Häupter aller früheren Frauen Ritter Blaubarts, […].“[20], während Jacob und Wilhelm Grimm von Blutströmen und Gerippen berichten: „Da schloß sie auf, und wie die Türe aufging, schwomm ihr ein Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und von einigen waren nur die Gerippe noch übrig.“[21] Nicht weniger explizit ging Blaubart bei Perrault vor:
Zunächst sah sie gar nichts, denn die Fensterläden waren geschlossen; nach wenigen Augenblicken aber konnte sie erkennen, daß der Boden mit geronnenem Blut bedeckt war, in dem sich die Körper mehrerer toter Frauen spiegelten, die an den Wänden entlang festgebunden waren.[22]
Bild- und schriftlich verweist der Münchener Bilderbogen detaillierter auf den Inhalt der Kammer (Auslassungen der Wortzwischenräume wurde vom Bilderbogen übernommen): „Gesagt, gethan, allein zum Tode erschrack diese, als sie in dem Gemache die früheren Frauen Blaubarts,theils enthauptet in ihremBlute schwimmend, theils an den Wänden aufgehängt fand“,[23] der Neue Magdeburger Bilderbogen zeigt in Panel 5 und 6 drei Schädel auf einem Brett, das an der Wand befestigt wurde und der Deutsche Bilderbogen präsentiert in Panel 3 ein Beil sowie ein Fass, in dem eine Frauenleiche liegt. Somit ergeben sich in den Bilderbogen auf textlicher Ebene folgende Unterschiede:
Neue Magdeburger Bilderbogen, um 1905 | Deutsche Bilderbogen, zw. 1867/71 | Münchener Bilderbogen, nach 1871 |
- zwei Brüder, eine weitere Schwester (Bechstein, Perrault)
- Schwester überredet zum Verbotsübertritt (Bechstein) - nicht näher beschriebene Leichen (Grimm, Perrault) - Burg verfällt. (?) |
- zwei Brüder (Perrault)
- Verbotsübertritt als Folge der Gier (Grimm, Perrault) - blutige Köpfe (Bechstein) - Protagonistin wird zur reichen Schlossherrin (Grimm, Perrault) |
- zwei Brüder, eine weitere Schwester (Bechstein, Perrault)
- Schwester überredet zum Verbotsübertritt (Bechstein) - blutige Beschreibung der Kammer (Grimm) - Schloss verfällt (?) |
Nicht nur inhaltlich unterscheiden sich die verschiedenen Bilderbogen voneinander, auch ihre Struktur weicht, trotz der Panelfixierung, untereinander ab. Neun gleichgroße Panels mit Textkästen und Erzähltext bestimmen den Neuen Magdeburger Bilderbogen. Zusammengehalten von einem Rahmen setzt sich der Rinnstein aus negativem Raum zusammen, d. h. zwischen den einzelnen Panels besteht keine gezeichnete Verbindung. Bilderbogen dieser Art erinnern in ihrer Form an die Sonntagsseiten Hal Fosters,[24] denn trotz der modernen Panelaufteilung besteht keine Größenvarianz und auf Sprechblasen wird, obwohl sie bereits von anderen Zeichnern verwendet wurden,[25] verzichtet. Der Bilderbogen wird von links nach rechts rezipiert, eine Rezeptionsfolge, die einige Jahre zuvor noch nicht in jedem Bilderbogen vorherrschte, wie der Deutsche Bilderbogen von Otto Brausewetter beweist. Die zehn Panels wurden nicht umrahmt, begrenzen sich selbst (die Illustration endet ohne Rahmen, weist aber rechteckige Proportionen auf). Unter ihnen befindet sich ein nummerierter Text, der, wie auch bei einigen Metapanels, eine nicht nachvollziehbare Rezeptionsabfolge ordnet. Dieses Vorgehen ermöglicht es Brausewetter, verschiedene Panelgrößen zu verwenden, um zeitliche Verläufe zu bestimmen. Analog zu der Panelgröße ändert sich auch die Länge der beigefügten Texte. Kürzere Szene wie etwa das Öffnen einer Tür (Panel 2/3) oder Blaubarts Bemühen, eine Tür einzutreten (Panel 6), werden in kleineren Panels abgebildet, während das Herannahen der Brüder (Panel 7) und der Kampf mit Blaubart (Panel 9) mitunter die vierfache Größe kurzer Momente annehmen. Es sei darauf hingewiesen, dass sowohl die Breite des Panels als auch seine Höhe, beeinflusst wird (vgl. Abbildung 2).[26] Abfolgen wie Panel 8 bis 10 sind in Comics keine Seltenheit und waren bereits ab den späten 1930er Jahren in den Sonntagsseiten der Tageszeitung vorhanden, wie etwa bei Flash Gordon oder Tarzan.[27] – ihre Leserichtung unterliegt aber der Abfolge Panel 9, Panel 8, Panel 10.
Sich in seiner Darstellung von den anderen Bilderbogen völlig abhebend, findet sich im Münchener Bilderbogen neben sechs Panels (die sich selbst begrenzen und rechteckige Proportionen aufweisen), eine Titelillustration und ein längerer Fließtext. Von den Illustrationen umrahmt, verweist er nur indirekt auf die Bilder und es wird zur Aufgabe des Rezipienten, Text und Bild einander zuzuordnen. Innerhalb der Bilderfolge wird die Leserichtung beibehalten. Wie auch auf textlicher Ebene, geizt der Bogen nicht mit blutigen Details und so verwundert eine Explizite Darstellung der weiblichen Opfer Blaubarts nicht (s. h. Abbildung 1).
Folgende Tabelle vergleicht die Bilderbogen miteinander. Problematisch gestaltet sich die genaue Zuordnung von Panel und Text im Münchener Bilderbogen; sie unterliegt einer eingeschränkt-subjektiven Wahrnehmung.
Analysetabelle anzeigen …Neue Magdeburger Bilderbogen Nr. 613: Ritter Blaubart., um 1905 | Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 153: Ritter Blaubart. Gezeichnet von O. Brausewetter., zw. 1867/71 | Münchener Bilderbogen Nr. 95: Blaubart., nach 1871 | |
Panel 1 | T: Glücklicher Ritter mit blauem Bart lebt auf Schloss.
B: Blaubart isst. F: Blaubart. BM: Säule. P: Augenhöhe. |
T: Gewaltiger Rittersmann, blauer Bart, 6 Frauen; Tochter einer Edelfrau wird vom Reichtum Blaubarts geblendet und heiratet ihn; Blaubart verreist, übergibt ihr einen Schlüssel zu einem verbotenen Gemach; Wenn sie das Gemach betritt, verliert sie seine Liebe.
B: Gattin erhält Schlüssel und bekommt Anweisungen. F: Schlüssel & warnende Geste. BM: Schlüssel P: Augenhöhe (unten beschnitten). |
Text (T): Reicher Rittersmann, glücklich, blauer Bart. Mehrfach verheiratet, Frauen sterben nach kurzer Zeit. Blaubart heiratet Edelfräulein. Verreist, übergibt Schlüssel mit Verbot, den dazugehörigen Raum zu betreten, sonst würde sie sterben.
Bild (B): Gattin erhält Schlüssel. Fokus (F): Schlüssel. Bildmittelpunkt (BM): Schlüssel(bund). Perspektive (P): Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Szene zu Szene | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Szene zu Szene |
Panel 2 | T: Blaubart war bereits öfter verheiratet, seine Frauen verstarben nach kurzer Zeit. Vermählt sich mit Edelfräulein.
B: Hochzeit. F: Kinder mit Kerzen. BM: Blaubart (Linke Hand). P: Augenhöhe. |
T: Frau durchsucht alle Zimmer, glaubt, dass die größten Kostbarkeiten im verbotenen Zimmer zu finden seien; betritt den verbotenen Raum aus Neugier.
B: Sie öffnet die Tür. F: Wachsames Gesicht, Schlüssel in Türschloss. BM: Gattin. P: Augenhöhe. |
T: Brüder und Schwester besuchen Blaubarts Frau, Schwester überredet zum Verbotsübertritt.
B: Blaubart reitet davon F: Dolch. BM: Sattel. P: Augenhöhe |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Handlung zu Handlung | Von Gegenstand zu Gegenstand |
Panel 3 | T: Verreist nach kurzer Zeit; unter Todesstrafe wird ihr untersagt, den Schlüssel zu einem verbotenen Raum zu benutzen.
B: Schlüsselübergabe. F: Schlüssel. BM: Blaubart. P: Augenhöhe. |
T: Ehefrau erspäht blutige Köpfe der verstorbenen Vorgängerinnen. Schlüssel fällt aus ihrer Hand; Blut klebt an ihm und lässt sich nicht abwaschen.
B: Ehefrau stürmt aus dem Raum. Im Hintergrund sieht man ein Beil sowie ein Fass, in dem eine Frauenleiche liegt. F: Arme vor Gesicht. BM: Gattin. P: Augenhöhe. |
T: Ehefrau findet teils enthauptet und in ihrem Blute schwimmend, teils an den Wänden hängende Leichen ihrer Vorgängerinnen; Schlüssel fällt ins Blut, lässt sich nicht mehr reinigen. Blaubart kehrt zurück.
B: Gattin öffnet Tür. F: Taille der Frau. BM: Frau. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Szene zu Szene | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Gegenstand zu Gegenstand |
Panel 4 | T: Edelfräulein bekommt Besuch von ihren Geschwistern; die Brüder jagen. Schwester überredet sie, das verbotene Zimmer zu betreten.
B: Verbotsübertritt F: Schlüssel in Türschloss BM: Gattin P: Augenhöhe |
T: Versucht Blut abzuwaschen; Blaubart kehrt heim.
B: Versucht, Schlüssel zu reinigen F: Ängstliches Gesicht, Schlüssel BM: Gattin. P: Augenhöhe (unten beschnitten) |
T: Packt Ehefrau, sie soll sich auf den Tod vorbereiten. Schwester eilt zum Turm hinauf. Blaubarts Frau ruft: „Schwester, siehst du Niemand?“ – „Niemand!“ lautet die Antwort.
B: Gattin soll exekutiert werden. F: Schwert, Haupt der Ehefrau. BM: Schwert. P: Augenhöhe. |
Indmeth | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Gegenstand zu Gegenstand |
Panel 5 | T: Beide sind entsetzt, finden die Leichen der verstorbenen Frauen. Blaubart kehrt heim.
B: Entsetzen, Blaubart steht vor der Tür. F: Blaubart. BM: Schwester. P: Augenhöhe. |
T: Ehefrau tritt Blaubart zitternd entgegen, er verlangt nach Schlüssel. Beleidigt von ihrer Untreue droht er ihr mit dem Tode.
B: Blaubart greift nach Schwert. F: Blaubart. BM: Blaubarts Lenden. P: Augenhöhe. |
T: Nach einiger Zeit erspäht die Schwester ihre Brüder, Ehefrau entreißt sich Blaubart und verriegelt die Tür. Brüder eilen herbei.
B: Brüder eilen herbei. F: Schwert des Bruders. BM: Bruder (linkes Bein). P: Augenhöhe. |
Indmeth | Von Handlung zu Handlung | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Gegenstand zu Gegenstand |
Panel 6 | T: Blaubart packt seine Ehefrau, sie soll sich auf den Tod vorbereiten. Schwester eilt auf Turm um nach den Brüdern zu sehen.
B: Blaubart hält Gattin an den Haaren, will sie töten. F: Schwert. BM: Blaubarts Hand, der Gattin an den Haaren festhält. P: Augenhöhe. |
T: Ehefrau versucht zu fliehen, eilt die Stufen zum Turm herauf und verschließt die Tür. Blaubart will diese zerstören.
B: Blaubart rammt Tür. F: Blaubart. BM: Blaubarts Lenden. P: Augenhöhe. |
T: Brüder töten Blaubart. Mit der Zeit verfällt das Schloss.
B: Blaubart ist tot, man verlässt das Schloss. F: Schwert des Bruders. BM: Bruder (Rechts Bein). P: Augenhöhe. |
Indmeth | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Gegenstand zu Gegenstand | |
Panel 7 | T: Ehefrau sehnt Brüder zur Rettung herbei, nach langer Zeit erreicht diese ein Notzeichen.
B: Schwester ruft auf Turm um Hilfe, Brüder eilen herbei. F: Schwester auf Turm, heraneilende Brüder. BM: Landschaft. P: Establishing Shot. |
T: Frau ruft um Hilfe, erblickt zwei Ritter (ihre Brüder); sie eilen zum Schloss.
B: Frau auf Turm ruft um Hilfe, Brüder eilen herbei. F: Brüder und Schwester. BM: Degen der Brüder. P: Establishing Shot. |
|
Indmeth | Von Gegenstand zu Gegenstand | Von Gegenstand zu Gegenstand | |
Panel 8 | T: Blaubart will seine Frau mit einem Schwert durchbohren; Brüder töten Blaubart.
B: Blaubart liegt am Boden, Geschwister verlassen das Panel nach links. F: Rüstung eines Bruders. BM: Wand. P: Augenhöhe. |
T: Blaubart versucht, die Tür zu öffnen, während seine Frau versucht, diese geschlossen zu halten.
B: Blaubart öffnet die Tür, Frau stemmt sich von gegen dieselbige. F: Tür. BM Gattin. P: Augenhöhe. |
|
Indmeth | Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt | Von Gegenstand zu Gegenstand | |
Panel 9 | T: Geschwister verlassen die Burg, sie wird gemieden und verfällt.
B: Burg vor Sonnenauf- bzw. Untergang. F: Sonne. BM: Berg. P: Establishing Shot. |
T: Die Brüder eilen die Treppe zum Turm hinauf und töten Blaubart.
B: Brüder eilen die Treppe zum Turm hinauf und töten Blaubart. F: Messer / Schwert Blaubarts. BM: Brüder (vor Blaubart). P: Augenhöhe, leicht erhöht. |
|
Indmeth | Von Gegenstand zu Gegenstand | ||
Panel 10 | T: Geschwister freuen sich über das Wiedersehen; Frau wird nun zur reichen Schlossherrin.
B: Geschwister freuen sich, Blaubart liegt am Boden. F: Toter Blaubart, Geschwister. BM: Bruder. P: Augenhöhe. |
Einige Panelinhalte, im weiteren Hauptereignispanel oder Ereignispanel genannt, finden sich demnach in allen Bogen. Die Schlüsselübergabe (NMBB 3, DBB 1, MBB 1), der Verbotsübertritt / das Öffnen der verbotenen Tür (NMBB 2, DBB 2, MBB 3), die versuchte Exekution der Gattin (NMBB 6, DBB 5, MBB 4), der Hilferuf (NMBB 7, DBB 7, MBB 5) sowie der tote Blaubart und die Freude über die Rettung (NMBB 8, DBB 10, MBB 6). Diese feststehenden Ereignisse werden um einige Füllpanels erweitert; Der Münchener Bilderbogen erweist sich als besonders Ereignisfixiert, d. h. abseits der benannten Hauptpanels 1, sowie 3 bis 6, wird nur ein weiteres Panel verwendet, um die bestehende Geschichte zu erweitern. Es handelt sich um eine Illustration des reitenden Blaubarts (Panel 2). Die sechs verschiedenen Panels des Bogens[28] verwenden die immer gleiche Perspektive Auf Augenhöhe, die textliche Ebene wird konsequent auf die bildliche übertragen; Doppelungen entstehen. Es zeigt sich bestätigt, dass die Bilder zur Textillustration dienen, was ob des Fließtextes, zu erwarten war.
Anders der Deutsche Bilderbogen. Zehn Panels weisen auf eine ausführlichere bildliche Erarbeitung hin, denn dem Zeichner standen neben den Hauptereignissen vier weitere Panels zur Verfügung. Brausewetter illustriert das Betreten der Kammer / den Moment des Erschreckens und fügt einen Handlungsübergang ein. Panel 4 zeigt Blaubarts Gattin bei der vergeblichen Reinigung des Schlüssels (Gegenstandsübergang), Panel 6 portraitiert Blaubart beim Versuch, die Tür der Schreckenskammer einzurammen (Gegenstandsübergang). Betrachtet man die Abfolge der Panels, ergibt sich eine Szenenabfolge: Panel 6 und 8 präsentieren eine direkte Handlungsabfolge mit den Perspektiven Schuss und Gegenschuss (Blaubart rammt die Tür, seine Gattin stemmt sich gegen die selbige). Zwischen den Panels erfolgt mithilfe des Hauptereignispanels 7 ein Ortswechsel und trägt zur Dramatisierung der Ereignisse bei. Panel 9 dient ebenfalls zur Erhöhung der Spannung, denn es zeigt den hoffnungslos wirkenden Kampf Blaubarts gegen die Brüder seiner Frau. Sein Schwert bzw. Dolch sticht auf dem Bild hervor und bildet den Fokuspunkt, wenngleich die Bildmitte auf einem der Brüder liegt. Während die Perspektive der Augenhöhe auch hier dominiert, lässt sich in Panel 7 ein Establishing Shot ausmachen: Blaubarts Frau ruft um Hilfe, die Brüder eilen herbei, der Fokus liegt auf den handelnden Figuren. Bildmittelpunkt stellt der gezückte Degen des voranreitenden Bruders dar – dennoch zeigt das Panel große Teile des Schlosses und weist damit auf die Szenerie der Handlung hin. Weiterhin bilden Blaubarts Lenden in den Panels 5 und 6 den Bildmittelpunkt und verweisen auf seine männliche Potenz / Macht. Einmal (Panel 9) befindet sich das Schwert / Messer, welches als Symbol der Macht, aber auch das überragenden Intellekts, gewertet werden darf,[29] im Fokus, dann wieder der zornige Gatte und die ihm innewohnende Kraft.
Ähnliche Genitalbereichsfixierungen sind in der Volkskunst immer wieder zu entdecken. Besonders Teufelsabbildungen profitieren von dieser Darstellungsweise wie z. B. im Tarot de Marseille (XV: Le Diable).[30] Der Teufel indes verfügt über eine blaue Haut oder Gewänder, eine Farbe die keineswegs ungewöhnlich war und z. B. auch von den Frères Limbourg in ihrer Satansdarstellung La Chute des Anges rebelle – eine der wenigen nicht-kirchlich beauftragten Satansabbildungen – verwendet wurde.[31] Im Tarot de Marseille tritt Blau in zwei unterschiedlichen Farbabstufungen auf: Hell- und Dunkelblau. Beide Farbtöne werden in positive und negative Bedeutungsebenen unterteilt: Hellblau steht sowohl für die Empfänglichkeit himmlischer Kräfte als auch für Unbeweglichkeit und patriarchalischer Strukturen, Dunkelblau für die Empfänglichkeit für irdische Kräfte sowie Despotismus und Tyrannei: „Blau. Die empfangende Farbe schlechthin. Farbe des Himmels und des Meers, suggeriert auch ein Verhaftetsein an den Vater. Die negative Dimension könnte die Unbeweglichkeit sein, das Ersticken: Wenn das Blut nicht mehr vom Sauerstoff gereinigt wird, wird es blau.“[32] Goethe unterscheidet ebenfalls mehrere Blautöne voneinander und verweist, wie auch Jodorowsky, auf seine Doppeldeutigkeit (Hervorhebung aus dem Original übernommen):
Blau.
-
- So wie Gelb immer ein Licht mit sich führt, so kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich führe. / 779. […] Sie ist als Farbe eine Energie; allein sie steht auf der negativen Seite und ist in ihrer höchstens Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts. Es ist etwas Widersprechendes von Reiz und Ruhe um Anblick. / 780. Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Fläche auch vor uns zurückzuweichen. / 781. Wie wir einen angenehmen Gegenstand, der vor uns flieht, gern verfolgen, so sehen wir das Blaue gern an, nicht weil es auf uns dringt, sondern weil es uns nach sich zieht. / 782. Das Blaue giebt uns ein Gefühl von Kälte, sowie es uns auch an Schatten erinnert. Wie es vom Schwarzen abgeleitet sei, ist uns bekannt. / […] Rotblau. […] / 789. Sehr verdünnt kennen wir die Farbe unter dem Namen Lila; aber auch so hat sie etwas Lebhaftes ohne Fröhlichkeit.
Blaurot.
-
- Jene Unruhe nimmt bei der weiterschreitenden Steigerung zu, und man kann wohl behaupten, daß eine Tapete von einem ganz reinen gesättigten Blaurot eine Art von unerträglicher Gegenwart sein müsse.[33]
Ferner verweist Winnfried Menninghaus auf die Ambiguität der Farbe:
Lexika und Nachschlagwerke bieten eine abundierende Fülle höchst widersprüchlicher Bedeutungen von ‚bleue‘ und ‚barbe‘ an. Blau ist sowohl als die Farbe göttlicher Reinheit und unendlicher Sehnsucht (‚blaue Blume‘) wie der Pest (der schwarze Tod als ‚blaue Flamme‘), der Alchimie oder der Nichtigkeit und Vergeblichkeit (ins blaue reden, blauer Dunst, […]) überliefert. Es gilt als Symbol von Treue und Beständigkeit, Bosheit und Lüge, Unheil und Trauer. Blau sind die Bärte altägyptischer Götter, […] und der Schleicher Marias in der christlichen Kunst; aber auch der Teufel wird zuweilen als blaue Gestalt bezeichnet. Blau hat die Assoziationen des Tiefen, Reinen, Wahren, Göttlichen, Königlichen, Unendlichen, Immateriellen einerseits, des Leeren und Vergeblichen oder Kalten bis Tödlichen andererseits.[34]
Blau erscheint demnach abstoßend und anziehend zugleich, verweist in bestimmten Abstufungen auf Lebhaftes ohne Fröhlichkeit, wie man sie in der Person Blaubarts ausmachen kann, steht gleichsam für die Leblosigkeit der ermordeten Ehefrauen, ihr vom Sauerstoff befreiten Blutes und den tödlichen Folgen von Blaubarts Handlungen. Blaue Farbe als namensstiftendes Element und der Genitalbereich als Bildzentrum deuten somit auf den teuflischen (abstoßendenden), aber auch verführerischen (anziehenden) Charakter Blaubarts hin. Perrault verweist zwar explizit auf Blaubarts abschreckende Wirkung auf die weibliche Welt; dennoch scheint von ihm eine gewisse Anziehungskraft auszugehen, sich die Attraktivitätsminderung eher auf moralischer denn optischer Ebene zu manifestieren: „ganz besonders stieß sie ab, daß er bereits mehrere Frauen geheiratet hatte, und daß man nicht wußte, was aus diesen Frauen geworden war.“[35] Menninghaus verweist darüber hinaus auf einen in den deutschen Übersetzungen unterschlagene Anmerkung zur Farbe des Bartes: „Statt ‚mais cet homme avait la barbe bleue‘ heißt es: ‚mais par malheur cet homme avait la barbe bleue‘.“[36] Der blaue Bart: Ein unglückliches Zufallsprodukt und keine aus Boshaftigkeit resultierende Farbe.
Monika Szczepaniak untersucht in Männer in Blau. Blaubart-Bilder in der deutschsprachigen Literatur zwar alle männlichen Aspekte der Person Blaubart unter Genderaspekten, die Farbe Blau selbst wird allerdings nur kurz als adelstypische Eigenschaft (blaues Blut) abgehandelt. Ein eigenes Kapitel, wie zur Kulturgeschichte des Bartes, fehlt.[37] Der Bart selbst verweist u. a. auf Göttlichkeit, aber auch auf Barbarei:
Nicht nur Juden und Christen stellen sich Gott bärtig vor. Schon in der ägyptischen Mythologie gehörte ein langer Bart zum Bild der Göttlichkeit, Zeus und viele andere griechische Götter waren ohne Bart nicht zu denken. Genauso werden die meisten alttestamentarischen und viele neutestamentarischen Figuren bärtig wiedergegeben: […]. Allerdings wurde in der Kirche – trotz der Bärtigkeit von Christus und den Aposteln – gelegentlich Stimmen gegen den Bart laut. Strutzmann macht auf die Bestrebungen aufmerksam, die glattrasierten Gesichter der Christen den Bärten der heidnischen Barbaren gegenüberzustellen und den Bart als Zeichen fleischlicher Begierde zu diskreditieren.[38]
Ein blauer Bart wäre demnach als Gegensymbol zu Gott denkbar, denn wie er, unterscheidet sich der Satan von ihm nur durch eine besondere Farbe und überbordende Sexualität.[39] Doch es sprechen noch mehr Anhaltspunkte für diese Lesart. Bruno Bettelheim zeigt Parallelen zu anderen Märchen mit geheimen Zimmern auf, etwa Fitchers Vogel (Grimm). Jene Märchen gleichen Blaubart; anstelle eines Menschen steht in ihnen jedoch ein nicht-menschliches Wesen im Vordergrund – in Fitschers Vogel z. B. ein Hexenmeister.[40] Der Schlüssel bzw. das Öffnen eines Schlosses, stärker noch als das Ei in Fitchers Vogel, erinnert an einen deflorierenden Akt.[41] Freud verweist in Die Symbolik im Traum auf das männliche Genital:
das männliche Glied, findet symbolischen Ersatz erstens durch Dinge, die ihm in der Form ähnlich, also lang und hochragend sind, […]. Ferner durch Gegenstände, die, die Eigenschaften des In-den-Körper-Eindringens und Verletzens mit dem Bezeichneten gemein haben […]. Das weibliche Genitale wird symbolisch dargestellt durch alle jene Objekte, die seine Eigenschaft teilen, einen Hohlraum einzuschließen, der etwas in sich aufnehmen kann. […] Die Zimmersymbolik stößt hier an die Haussymbolik, Türe und Tor werden wiederum zu Symbolen der Genitalöffnung.[42]
Demnach verkörpert der Schlüssel Blaubarts nicht nur das Genital an sich, sondern in seiner blutbeschmierten Variante den Penis nach der Defloration.[43] Die Neugier wird mit dem Tode bestraft. Die Parallelen zur Genesis scheinen unübersehbar – anders als in der biblischen Geschichte wird das einzige Verbot nicht von Gott aufgestellt und sanktioniert, sondern von seinem mephistophelisches Gegenspieler, einer Figur, die, wie auch der Satan, abstoßend und anziehend zugleich auf den Menschen wirkt.[44] Es zeigt sich: Der Deutsche Bilderbogen von 1867/71 interpretiert Blaubart als Teufel oder satanische Gestalt, einen Gebieter, dessen moralisches Gesetz mit Verdammnis bestraft wird und dessen Bart auf seine Eigenschaften verweist. Diese zeichnerische Darstellung muss als problematisch hervorgehoben werden. Menninghaus verweist in Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart auf eben jene Interpretation und die damit einhergehende Problematik, denn die „metaphorische Bedeutungsbestimmung […] läßt nur einige der negativen Bedeutungsmöglichkeiten übrig und gelangt zu dem eindeutigen Befund, der blaue Bart verweise auf das Kalte und Boshafte seines Trägers.“[45] Gleichsam warnt er vor einer Gleichsetzung von Träger und Merkmal. Im Märchen unterliege besonders die positive Besetzung optischer Merkmale einiger Charakterschwächen und Schönheit werde oft mit moralisch fragwürdigen Handlungen und Untadeligkeit gleichgesetzt:
Der Schluß von der ästhetischen Erscheinung aufs ethische Wesen, das Kontinuum von schön und gut wird also im Märchen entweder an Bedeutungen gebunden oder direkt unterbrochen. Ähnliches gilt für die komplementäre Relation von häßlich und böse. Nur selten begleitet und unterstreicht Häßlichkeit […] einfach die Bosheit eines Wesen. Oft dagegen versteckt sich hinter der Häßlichkeit entweder die Schönheit selbst, nämlich als verzauberte […] oder gerade ein ‚guter Mensch‘ […].[46]
Der Neue Magdeburger Bilderbogen besteht aus neun Panels, dem Zeichner standen folglich vier weitere Bilder zur Verfügung, um die Hauptereignispanels zu verbinden. Bevor das erste Ereignispanel Verwendung findet (Panel 3), wird die Person Blaubart vorgestellt und essend auf einer Art Balkonade gezeigt. Im Hintergrund deuten sich seine Ländereien an. Panel 2 hingegen dokumentiert die Hochzeit des ungleichen Paares. Wie auch im Deutschen Bilderbogen folgt auf den Verbotsübertritt, begangen von Blaubarts Gattin und ihrer Schwester, eine Darstellung der Leichenkammer. Während erstere vom Anblick der Schädel erschauert, erschrickt letztere, denn sie sieht Blaubart herbeieilen. Der sonst naturalistische Stil des Bogens unterliegt in der Darstellung des wütenden Ehemanns einer Brechung zugunsten eines reduziert-abstrakten Zeichnungsstils in der Gesichtsregion (Panel 5). Blaubart, mehr Bart als Mensch (s. h. Abbildung 3), stürmt heran, um im folgenden Ereignispanel wieder menschliche Form anzunehmen. Auf der McCloud-Realismusskala entspricht diese Darstellung dem Bereich 29 1/2, 39 bis 42 sowie 56. Ereignispanel 7 und 9 heben sich von den übrigen Perspektiven (Auf Augenhöhe) ab, denn es werden Establishing Shots verwendet; die Wahl des finalen Panels muss gesondert betrachtet werden, denn sie unterscheidet sich deutlich von den anderen Bilderbogen. Der Bildinhalt, eine friedliche Szenerie (Burg vor Sonnenauf- bzw. untergang, vermutlich der in Panel 7 dargestellte Turm aus der Perspektive der herannahenden Brüder) hebt sich vom Erzähltext ab und das Bild wird um weitere Informationen ergänzt, die ohne Text nicht erfassbar wären (Parallele). Der Übergang von Ereignispanel 8 und dem für die Erzählung unwichtigen Establishing Shot in Panel 9 wird mit der Induktionsmethode Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt vollzogen (s. h. Abbildung. 4). Gesichtspunktübergänge werden nur selten in Bilderbogen verwendet und sie bedürfen aus diesem Grund einer genaueren Betrachtung. Während der Erzähltext in Panel 8 von der Tötung Blaubarts berichtet, wird der Leser in Panel 9 über das Schicksal der Burg in Kenntnis gesetzt. Sie wird verlassen, gemieden und verfällt im Laufe der Zeit. In beiden Panels steht somit die Burg als Ort im Vordergrund, was bereits im achten Panel dadurch verdeutlicht wird, dass Blaubart sterbend am Boden liegt (rechts) und die Geschwister nur am linken Bildrand auftreten und der Bildmittelpunkt auf der Wand verweilt. Die Umgebung tritt in den Vordergrund und auch das letzte Panel zeigt nur einen weiteren Aspekt desselben Ortes. Panel 8 beschließt die schrecklichen Ereignisse, während Panel 9 entweder einen neuen Tag und somit einen neuen Lebensabschnitt symbolisiert – oder, mit einem Sonnenuntergang, die Finalität des Erlebten unterstreicht. Zeit indes wird nur vage angedeutet und darf als indefinit charakterisiert werden, denn sie spielt in beiden Panels eine untergeordnete Rolle. Folglich bestätigen sich die Kriterien McClouds. Zeit ordnet sich dem Orte unter und eine Stimmung wird tragendes Übergangselement der Panels.[47]
Der Stil der der drei Bogen variiert: Auf der McCloud Realismusskala befindet sich der Stil des Neuen Magdeburger Bilderbogen Nr. 613 im Bereich 54 bis 57, 69 bis 71 und 90 bis 93, Panel 5 hingegen verwendet im Falle Blaubarts den Bereich 29 1/2, 39 bis 42 und 56, wendet sich demnach einer cartoonartigen Bedeutungsebene zu. Der Deutsche Bilderbogen Nr. 153 verweilt im Bereich 32 bis 35, 44 bis 55, 60 bis 66 sowie 82 bis 90 und darf als reduziert realistisch bezeichnet werden, während der Zeichner des Münchener Bilderbogens Nr. 95 ebenfalls realistische Darstellungsweisen verwendet; seine Zeichnungen decken den Bereich 60 bis 64 sowie 79 bis 84 ab.
Narrationsgruppen sind ebenfalls vorhanden. Sie werden wie folgt verwendet:
Gruppe 1 | Gruppe 2 | Gruppe 3 | Gruppe 4 | Gruppe 5 | |
Einleitung | Gebot | Gebotsübertritt | Bestrafung | Rettung | |
Neuer Magdeburger Bilderbogen Nr. 613 | Panel 1 – 2 | Panel 3 | Panel 4 – 5 | Panel 6 | Panel 7 – 9 |
Gebot | Gebotsübertritt | Bestrafung | Rettung | Finale | |
Deutscher Bilderbogen Nr. 153 | Panel 1 | Panel 2 – 4 | Panel 5 – 6 | Panel 7 – 9 | Panel 10 |
Gebot | Ausritt | Gebotsübertritt | Bestrafung | Rettung | |
Münchener Bilderbogen Nr. 95 | Panel 1 | Panel 2 | Panel 3 | Panel 4 | Panel 5 – 6 |
Im Deutschen Bilderbogen Nr. 153 sticht die Gruppe 2 besonders heraus: Sie zeigt Blaubarts Frau in einer Bewegung während und nach dem öffnen einer Tür. Generell verwenden die Bilderbogenzeichner eher Narrationsgruppen als bewegungsunterteilende Panelgruppen. Letztere finden sich lediglich im Neuen Magdeburger Bilderbogen Nr. 613 und im Deutschen Bilderbogen Nr. 153. Sie zeigen, wie die Leichenkammer geöffnet wird, Blaubart heimkehrt und seine Gattin hinrichten will (NMBB: Panel 4 bis 6) und Blaubart beim Versuch, eine Tür gewaltsam zu öffnen, während seine Gattin ihn am Eindringen hindern möchte (DBB: Panel 6 und 8).
Das Verhältnis von Text zu Bild ist in allen Bilderbogen textlastig, wobei der Münchener Bilderbogen besonders heraussticht. Es darf festgehalten werden, dass allen Bildern durch den Text wichtige, zum Verständnis der Geschichte notwendige, Informationen hinzugefügt werden.
Belege:
[1] Neben den relevanten Bogen existiert z. B. auch ein bilingualer Blaubart-Bogen aus Frankreich mit dem Titel BARBE-BLEUE. Blaubart, der in Weissenburg (Bas-Rhin) verlegt wurde, und in Paris vertrieben wurde. Dieser Bogen erzählt das Märchen in 15 rechteckigen Bildern Von Szene zu Szene nach. Der Bogen orientiert sich an der von Grimm genannten französischen Sage. Vgl. hierzu auch Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. Anmerkungen. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 3. S. 526. sowie Anonymus: BARBE-BLEUE. Blaubart. Nr. 50. Verlag Fr. Wentzel (Wissembourg u. Paris).
[2] Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. Anmerkungen. In: Kinder- und Hausmärchen. S. 525.
[3] Wie etwa in: Grimm, Jacob und Wilhelm: Märchen der Brüder Grimm. Bilder von Nikolaus Heidelbach. Weinheim u. Basel 2007.
[4] Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. Anmerkungen. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 3. S. 526.
[5] Bechstein, Ludwig: Das Märchen vom Ritter Blaubart. In: Ludwig Bechstein’s Märchenbuch. S. 295.
[6] Korpus 32.
[7] Korpus 411.
[8] Korpus 277.
[9] Geschwisterzahl und Finale bedingen einander, deshalb werden sie der Leichenkammer vorangestellt.
[10] Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 2. S. 465.
[11] Bechstein, Ludwig: Das Märchen vom Ritter Blaubart. In: Ludwig Bechstein’s Märchenbuch. S. 295.
[12] Perrault, Charles: Blaubart. Ein Märchen. In: Sämtliche Märchen. S. 74.
[13] Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. Anmerkungen. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 3. S. 526.
[14] Perrault benennt ebenfalls eine zweite Schwester. Sie beeinflusst das Märchen indes nicht. (Perrault, Charles: Blaubart. Ein Märchen. In: Charles Perrault. Sämtliche Märchen. S. 74.)
[15] Perraults Moral lautet: „Mag auch die Neugier noch so verlocken, so schafft sie häufig doch nur Kümmernis; ein jeder Tag liefert hierfür unzählige Beispiele. Sie gewährt, mit Verlaub, werte Damen, ein flüchtiges Vergnügen: kaum gibt man sich ihm hin, ist es auch schon vorbei, und immer ist sein Preis hoch.“ (Perrault, Charles: Blaubart. Ein Märchen. In: Sämtliche Märchen. S. 81.)
[16] Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 2. S. 465 – 468. Und: Perrault, Charles: Blaubart. Ein Märchen. In: Sämtliche Märchen. S. 74 – 81.
[17] Perrault, Charles: Blaubart. Ein Märchen. In: Sämtliche Märchen. S. 81.
[18] Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 2. S. 468.
[19] Bechstein, Ludwig: Das Märchen vom Ritter Blaubart. In: Ludwig Bechstein’s Märchenbuch. S. 299.
[20] Ebd. S. 297.
[21] Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 2. S. 466.
[22] Perrault, Charles: Blaubart. Ein Märchen. In: Sämtliche Märchen. S. 76.
[23] Münchener Bilderbogen Nr. 95: Blaubart.
[24] Hal Fosters Comics wie Tarzan oder Prinz Eisenherz standen den europäischen Bilderbogen künstlerisch sehr nahe. Seine Comics wurden ganzseitig abgedruckt; auf Sprechblasen verzichtete er. Auch Andres Platthaus verweist auf Fosters konservative Panelstruktur:
So neuartig Foster seine Serie beginnen ließ, sosehr hielt er sich noch mit graphischen Experimenten zurück. Seine „Tarzan“-Serie war bezüglich der Seitenarchitektur sehr konservativ gewesen, und auch in „Prinz Eisenherz“ dauerte es bis zur elften Folge, ehe Foster sich von der strikten Einteilung in zahlreiche gleich große Bilder löste und variable Formate wählte, […]. (Platthaus, Andreas: Ein Prinz, der unter den Helden ein König ist. S. 9.)
[25] Bilderbogen wie Rapunzel von Otto Speckter [Vgl. Kapitel II. III: a) Metapanel.] verwenden bereits Sprechblasen. Vgl. hierzu auch: Sackmann, Eckart: Der deutsche Comic vor ‚Max und Moritz‘. S. 7 – 29.
[26] Vgl hierzu auch die Unterkapitel Blinder Eifer Schadet nur und Die feindlichen Nachbarn, oder: Die Folgen der Musik.
[27] Vgl. hierzu: Braun, Alexander: Jahrhundert der Comics. Die Zeitungs-Strip-Jahre. Bielefeld 2008. S. 187, 199 u. 202.
[28] Panel 1 und 2 stellen den Rezipienten vor ein nichtlösbares Problem der Leserichtung, denn obwohl das erste Panel der Seite die Schlüsselübergabe zeigt, wird weder durch Text noch Bild deutlich, ob Panel 2, Blaubart sitzt auf einem Pferd, nicht doch vorangestellt werden muss.
[29] Im Tarot de Marseilles, der als älteste, vollständig erhaltene Grundlage diverser späterer Kartenvarianten gilt, wird das Schwert als „traditionelles Symbol für das Wort“, die intellektuelle Energie gedeutet. Der Intellekt wird demnach wie ein Schwert geschärft. Der Stab hingegen entspricht der sexuellen Potenz, denn er wuchs auf natürliche Weise. Vgl. Jodorowsky, Alejandro und Marianne Costa: Der Weg des Tarot. Aus dem Spanischen von Silke Kleemann. Aitrang 2008. S. 60 – 62.
[30] Vgl. Jodorowsky, Alejandro und Marianne Costa: Der Weg des Tarot. S. 228 – 235.
[31] La Chute des Anges rebelle gehört zum mittelalterlichen Manuskript Les Très Riches Heures du Duc de Berry.
[32] Jodorowsky, Alejandro und Marianne Costa: Der Weg des Tarot. S. 111 – 112.
[33] Goethe, Johann Wolfgang: Naturwissenschaftliche Schriften. Mit Einleitungen und Erläuterungen im Text herausgegeben von Rudolf Steiner. Band 3. Dornach 1982. S. 293 – 295.
[34] Menninghaus, Winfried: Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart. Frankfurt am Main 1995. S. 73.
[35] Perrault, Charles: Blaubart. Ein Märchen. In: Sämtliche Märchen. S. 74.
[36] Menninghaus, Winfried: Lob des Unsinns. S. 73.
[37] Vgl. Szczepaniak, Monika: Männer in Blau. Blaubart-Bilder in der deutschsprachigen Literatur. Köln 2005.
[38] Szczepaniak, Monika: Männer in Blau. S. 112.
[39] Die Ähnlichkeit von Sündenfall und Blaubart spricht auch Szczepaniak an: Peter von Matt betone „die Analogie zwischen dem Öffnen der verbotenen Kammer im Blaubart-Märchen und dem Essen vom Baum des Paradieses (strafender Vatergott – strafender Ehemann) und liest die Geschichte als ‚eine drastische Allegorie vom Patriarchat und der patriarchalen Ehe‘ […].“ (Szczepaniak, Monika: Männer in Blau. S. 103.) Friedrich II. von Preußen nutzt Blaubart, so Szczepaniak, um Teile der Bibel der Lächerlichkeit preiszugeben. (Vgl. Szczepaniak, Monika: Männer in Blau. S. 124 – 125. [FN 193])
[40] Vgl. Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. Aus dem Amerikanischen von Liselotte Mickel und Brigitte Weitbrecht. München 1980. S. 351 – 352.
[41] Vgl. Ebd. S. 351 – 352.
[42] Freud, Sigmund: 10. Vorlesung. Die Symbolik im Traum. In: Mitscherlich, Alexander et. al. (Hg.): Sigmund Freud. Studienausgabe Band 1. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge. Frankfurt am Main 1989. S. 164 – 165.
[43] Vgl. hierzu auch Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. S. 353 f..
[44] In der Erstausgabe der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen von 1812 spricht Blaubart selbst von einem Gebotsübertritt: „Du hast ihn nicht verloren, sagte der Blaubart, zornig, du hast ihn dahin gesteckt, damit die Blutflecken herausziehen sollen, denn du hast mein Gebot übertreten, und bis in der Kammer gewesen, aber jetzt sollst du hinein, wenn du auch nicht willst.“ [Grimm, Jacob und Wilhelm: Blaubart. In: Kinder- und Hausmärchen (1812 – 15). S. 172.]. Weiterhin erscheint Blaubart in dieser Fassung menschlicher: Der Brautvater hat an ihm nichts auszusetzen – nur der blaue Bart sein ungewöhnlich (Vgl. S. 171) und Blaubart gewährt seiner Frau ein letztes Gebet vor der Exekution (Vgl. S. 172 – 173).
[45] Menninghaus, Winfried: Lob des Unsinns. S. 74.
[46] Vgl. Ebd. S. 74 – 75.
[47] Vgl. McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S. 80.