Der Deutsche Bilderbogen Nr. 52 von Carl August Reinhardt erzählt die Geschichte eines Kochs, der seinem König einen Hasenbraten zubereiten soll. Unglücklicherweise wird der Braten von Ratten gefressen, die der faule Küchenkater nicht erlegte. Zur Strafe wird dieser sofort erdolcht, an Stelle des Hasen zubereitet und später mit Krautsalat gereicht. Die Rattenplage bleibt jedoch. Um sie zu beseitigen, besorgt der Koch Gift. Jacob Spürnas, ein Lakaie, interpretiert die Situation falsch und warnt den König vor einem drohenden Attentat. Da er und seine Gäste bereits von den Speisen kosteten, bricht Panik aus – man wähnt sich vergiftet. Der Koch soll gehängt werden, doch der Strick reißt und man begnadigt den zu Unrecht Beschuldigten. Es stellt sich heraus: Angst und Krautsalat sorgten für Magenprobleme. Jacob Spürnas indes wird nun an seiner Stelle bestraft und von zwei Männern mit Stöcken verprügelt.
Der sächsische Maler Carl August Reinhardt zählt laut Bernd Dolle-Weinkauff zu jenen Zeichnern des 19. Jahrhunderts, die sich mit Witz und Begeisterung für Tollheiten aller Art auch in Zeiten finsterster Restauration zu behaupten [wussten]. Sie verstummten auch nicht, als der revolutionäre Aufbruch zurückgeschlagen wurde, sondern trieben weiter ihre skurrilen Späße, bisweilen bis in Richtung eines gepflegten Nonsense.[1]
Neben seiner Tätigkeit als Karikaturist widmete er sich auch der Kinderliteratur; in letzterem Tätigkeitsfeld arbeitete er vor allem mit anthropomorphen Tieren. Jene Kinderbücher blieben aber meist nicht-sequenziell. Eine Ausnahme waren Teile des Buchs Die Arche Noah.[2] Von Reinhardts Liedadaptionen, die neben anderen Bogen gleicher Gestalt im nachfolgenden Unterkapitel gesondert untersucht werden, sticht laut Dolle-Weinkauff die vorliegende Moritat von 1868/69 besonders hervor, denn
Reinhardt begnügt sich hier nicht damit, bloß das lineare Ordnungsprinzip der Moritatentafel für das Arrangement der Einzelbilder des Bilderbogens zu verwenden, sondern nimmt diese zum Ausgangspunkt einer metafiktionalen Spielerei, wie sich auch in modernen Comics gelegentlich auftritt. So erscheint in der untersten Bildreihe der Bänkelsänger selbst als Erzähler vor einer zeichnerisch simulierten, zerschlissenen Moritatentafel, um Höhepunkt und Ende der Geschichte zu verkünden.[3]
Hier tritt folglich der fiktive Erzähler des Bogens selbst in Erscheinung, was sich vor allem auf den Erzähltext auswirkt. Dieser steht, wie auch in anderen Bilderbogen, unter dem jeweiligen Panel. Ausnahmen bilden die letzten zwei Bilder, denn der Text verlässt den simulierten Raum, d. h. er steht nicht mehr auf der Moritatentafel sondern in der Bildrealität des Erzählers. Diese Besonderheit deutet an, dass er nicht als Teil der Bildrealität, sondern realer Klang gewertet werden muss, der vom Moritatenerzähler abgesondert wird. Dem Text kommt darüber hinaus noch eine weitere Eigenschaft zu, denn er unterteilt die Panels 6, 8 sowie 9; Panel 9 / 10 teilt sich überdies einen Text, was die Vermutung stützt, es handele sich nicht um einen Erzähltext, sondern einen erzählten Text ohne Sprechblase.
Analysetabelle anzeigen …Deutscher Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 52: Eine Morithat. |
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Panel 1 | Text (T): „Leutchen hört! – Es war ein König, / Thät‘ gern Hasenbraten essen, / Und sein Koch erschrack nicht wenig, / Als die Ratten den gefressen.“
Bild (B): Ein adipöser Koch mit Messer in der Hand entdeckt das Skelett eines Hasen. Neben ihm sitzt der Küchenkater, während Ratten um seine Beine krabbeln. Fokus (F): Koch. Bildmittelpunkt (BM): Koch (Bauch/Schürze). Perspektive (P): Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Handlung zu Handlung. | |||||
Panel 2 | T: „Der Geheime – Küchenkater / Saß dabei und rührt‘ sich nicht. / D’rob voll Zorn sein großes Messer / In den Leib der Koch ihn sticht.“
B: Der wütende Koch erdolcht den Kater; aus der Wunde spritzt viel Blut. F: Kater mit Messer im Bauch. BM: Koch (Bauch/Schürze). P: Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. | |||||
Panel 3. | T: „Sprach: „Du sollst als Has‘ nun braten, / Dazu mach‘ ich Krautsalat / Und für diese böse Ratten / Holt‘ ich Gift mir aus der Stadt.“
B: Der Koch steht neben der anderen, bisher verborgenen Seite des Tisches. Mit der linken Hand trägt er einen großen Behälter mit Rattengift; der Kater wurde als Braten zubereitet. F: Behälter mit Aufdruck Rattengift. BM: Koch (Bauch/Schürze). P: Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. | |||||
Panel 4 | T: „Jacob Spürnas, der Lakaie, / Der gern guckt durch’s Schlüsselloch, / Sieht das Gift und denkt: ‚Es macht ein Attentat jetzt dieser Koch!‘ – –“
B: Jacob Spürnas guckt durch ein Schlüsselloch. F: Jacob Spürnasens Nase. BM: Undefinierbares Kleidungsstück des Jacob Spürnas. P: Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. | |||||
Panel 5 | T: „Doch der Koch thut schön serviren / Hasenkater als Gericht. / Spricht: ‚Man wird ihn schnabeliren, / Denkt an einen Kater nicht.‘“
B: Der Koch serviert den Katzenbraten. F: Koch. BM: Koch. P: Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. | |||||
Panel 6 | T: „Und es speist der Landesvater / Mit Gesandten fremder Staaten / Den Geheimen – Küchenkater / Ahnungslos als Hasenbraten.“
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T: „Da sagt, leis herbeigeschlichen, / Jacob Spürnas, der Lakei, / Daß es der Geheime-Küchen- / Kater mit Arsenit sei.“
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B: König, Königin und Gäste speisen an einer Tafelrunde, während Jacob Spürnas ihm etwas zuflüstert.
F: König und Jacob Spürnas. BM: Braten. P: Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. | |||||
Panel 7 | T: „Alles schreit nun Mord und Zeter / Majestät ächzt: ‚Diesen Koch! / Diesen schlechten Attentäter / Steckt mir in das tiefste Loch!‘ –“
B: Der Koch wird von zwei Wachen festgenommen. F: Koch. BM: Koch. P: Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. | |||||
Panel 8 | T: „Und der Erbprinz von Marokko / Hält sich wimmernd seinen Bauch, / Der Gesandte von Monaco / Spürt ein böses Zwicken auch.“ | T: „Kammerherren rennen eilend, / Wimmernd nach dem Leibarzt ’rum, / Kammersamen sitzen heulend / Ueberall im Schloß herum.“
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T: „Alles fühlt in den Gedärmen / Zwicken, Reißen, Angst und Pein. / Dieser thut den Bauch sich wärmen, / Jener nimmt zum Brechen ein.“
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T: „Majestät ächzt: ‚An den Galgen / Soll der Koch für diese That. / Denn uns Katzen aufzutischen, / Ist allein schon Hochverrath.‘“
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B: Verschiedene anwesende Personen krümmen sich, ihre Position orientiert sich am Text. Einer von ihnen hält sich ein Bügeleisen an den Bauch, ein Arzt mit überdimensionalen Spritze, einem nicht genauer definierten Gegenstand und einem Gefäß mit Zettel (Aufschrift: „alle 2 Stunden“) eilt von rechts herbei.
F: Undefiniert. BM: Bügeleisen bzw. Mann mit Bügeleisen. P: Augenhöhe. |
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Indmeth. | Von Szene zu Szene. | |||||
Panel 9 | T: „,Aber, uns gar einzurühren / Rattengift, ist schändlich, doch / Thut ihn zum Galgen führen, / Baumeln muß der böse Koch.‘“
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T: „Wie er soll gehenkt nun werden, / Reißt entzwei der Galgenstrick, / Und der Koch fällt hin zur Erden – / Denn sein Bauch war gar zu dick.“ | T: „Auch Pardon thut man ihm reichen, / Weil sein‘ Unschuld kund sich that, / Denn das Kneipen in den Bäuchen / Kam von Angst und Krautsalat.“ | |||
B: Ein Galgengerüst. Der Henker hält den Strick in den Händen, der Strick reißt und der Koch fällt. Ein glatzköpfiger Mann mit Brille hält einen „Pardon“-Zettel in der rechten Hand. Außerhalb der Bildrealität sieht man den Erzähler des Bogens. Dieser trägt einen Zylinder, einen alten Anzug und einen Backenbart. Er zeigt mit einem Stock auf den Zettel des glatzköpfigen Mannes.
F: Erzähler. BM: Leer. P: Augenhöhe (Erzähler). |
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Indmeth. | Von Szene zu Szene. | |||||
Panel 10. | T: „Auch Pardon thut man ihm reichen, / Weil sein‘ Unschuld kund sich that, / Denn das Kneipen in den Bäuchen / Kam von Angst und Krautsalat.“ | T: „Jacob Spürnas, den Lakaier / Kriegt man her an seiner Statt / Haut ihn durch ganz ungeheuer, / Weil er so gelogen hat.“ | ||||
B: Zwei Männer mit Stöcken prügeln auf Jacob Spürnas ein. Dieser liegt auf einer Bank, seine Hände wurden festgebunden. Ein Mann mit Brille beaufsichtigt das Prozedere.
F: Jacob Spürnas. BM: Jacob Spürnasens Hinterteil, über dem sich eine Staubwolke (?) bildet. P: Augenhöhe. |
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Folgende Narrationsgruppen lassen sich im vorliegenden Bogen ausmachen: Panel 1 – 3 (Gruppe 1: Der Kater wird geschlachtet und zubereitet), Panel 4 (Gruppe 2: Jacob Spürnas spioniert), Panel 5 – 7 (Gruppe 3: Das Mahl wird serviert, der Koch verhaftet), Panel 8 (Gruppe 4: Die Gäste fühlen sich unwohl), Panel 9 und 10 (Gruppe 5: Der Koch wird begnadigt und Jacob Spürnas bestraft). Insbesondere Gruppe 1 sticht heraus, denn sie bildet auch eine Panelgruppe, d. h. Panel 1 und 2 zeigen einen engen Bewegungsablauf, der ein Subjekt bei einer Handlung präsentiert. Der Koch nimmt sein Messer und rammt es in den Bauch des Katers (Induktionsmethode: Von Handlung zu Handlung). Weitere Übergänge erfolgen Von Gegenstand zu Gegenstand oder Von Szene zu Szene – insbesondere die Gruppen 4 und 5 verweisen auf andere Orte und Zeiten, die Übergänge sind hier besonders groß.
Gruppe 4 weist ebenfalls eine Besonderheit auf, denn bei Panel 8 handelt es sich um ein auf Moritatenbogenbreite ausgedehntes Panel, in dem mehrere Personen auftreten: Der Erbprinz von Marokko sowie der Gesandte von Monaco, Kammerherren und ‑Damen, der König sowie ein Arzt. Vom Text wird das Panel in vier Bereiche unterteilt, wobei der abgebildete Teilbereich immer den Textinhalt doppelt. Ähnlich verhält es sich mit Panel 6. Man speist an einer Tafelrunde, im rechten Bildabschnitt flüstert Jacob Spürnas dem König seine Vermutung ob der vergifteten Speisen zu. Der Text beschreibt im ersten Block (links) die geladenen Gäste, der zweite Teil (rechts) lenkt den Blick auf den Lakai des Königs. Das Verhältnis von Text und Bild ist überschnitten, denn der Rezipient erfährt, was Jacob Spürnas dem König ins Ohr flüstert.
Gruppe 5 verdeutlicht die Metaebene der Darstellung: Es zeigt sich, dass der Bogen drei Ebenen enthält, von der eine die sequenzielle Geschichte, eine den Erzähler und eine weitere den Klang / die Sprache darstellt. Da der Erzähler mit seinem Zeigestock auf den „Pardon“-Zettel in Panel 9 verweist, wird deutlich, dass man sich bereits in der dritten Strophe befindet. Diese dritte Strophe überlappt mit Panel 10 und stellt somit eine Verbindung zwischen den beiden Bildern her. Mehr noch bricht Reinhardt mit der bisherigen Erzählweise, die eine Strophe dem jeweiligen Panel / Panelabschnitt zuordnet: Die Moritatentafel als solche rückt in den Vordergrund; der Rezipient folgt den Worten des Erzählers, der Blick bleibt frei.
Reinhardt verwendet in Eine Morithat ausschließlich die Perspektive Auf Augenhöhe. Abgesehen vom Schloss / Palast des Königs (Küche, Küchentür, Speisesaal) wird noch die Hinrichtungsstelle gezeigt. Aufgrund der Metastruktur des Bogens werden zwei Rahmentypen verwendet. Der erste Rahmen besteht aus der Moritatentafel selbst: Ein Blatt Papier wird am oberen und unteren Rand mit Hilfe eines Stockes beschwert. Die Bildergeschichte auf dieser Tafel wird von stockähnlichen Rahmen unterteilt. Stark überzeichnete Figuren bevölkern die Geschichte, nicht nur im Falle des Marokkaners entsprechen sie üblichen Klischees. Lediglich der Erzähler entspricht einer realistischen Gestaltung. Somit werden die beiden Bildebenen voneinander abgesetzt (Realität / Zeichnung innerhalb der Realität). Innerhalb der Panels wurden nur die nötigsten Elemente gezeichnet. Panel 4 zeigt einzig den Spion und das Schlüsselloch, durch das er späht, Panel 8 bildet lediglich die leidenden Personen und einen besorgten Arzt ab. Auf der McCloud-Realismmusskala nehmen die Figuren des Moritatenbogens den Bereich 32 bis 35, 47 bis 51 sowie 60 bis 64, der Erzähler hingegen den Bereich 44 bis 45, 60 sowie 79 bis 80 ein.
Das Verhältnis zwischen Text und Bild ist weitestgehend textlastig, d. h. „Die wesentlichen Informationen werden vom Text übermittelt, das Bild dient lediglich der Illustration.“[4] In jedem Panel wird ein Moment des Begleittextes illustriert, während weitere Informationen – etwa welcher Salat zum falschen Hasen serviert wird – vom Text hinzugefügt werden. Ausnahmen bilden die Panels 6 und 8, wo sich das Text- / Bildverhältnis doppelt bzw. überschneidet.
Belege:
[1] Dolle-Weinkauff, Bernd: Die Bildergeschichten des Carl August Reinhardt. In: Deutsche Comicforschung 2006. Hrsg. von Eckart Sackmann. Hildesheim 2005. S. 23.
[2] Vgl. Ebd. S. 23 – 24.
[3] Vgl. Ebd. S. 26.
[4] Mc Cloud, Scott: Comics machen. S. 130.