Der Kinderwunsch eines Königspaares bleibt unerfüllt. Eines Tages nimmt die Königin ein Bad und trifft auf einen magischen Frosch, der ihr verspricht, dass ihr innerhalb eines Jahres ein Kind geboren wird. Nach Ablauf dieser Zeit erfüllt sich die Prophezeiung. Das Königspaar lädt zu einem großen Fest. Aufgrund eines Mangels an Geschirr werden nur 12 der 13 weisen Frauen eingeladen. Jede von ihnen schenkt der Prinzessin, Dornröschen genannt, eine Wundergabe. Just in diesem Moment erscheint die erboste dreizehnte Frau und rächt sich mittels eines Fluchs an Dornrösches Eltern: Im fünfzehnten Lebensjahr werde sich ihre Tochter an einer Spindel stechen und sterben. Jenes Todesurteil wird jedoch von einer anderen weisen Frau zu einem hundertjährigen Schlaf abgemildert. Alle Spindeln im Königreich fallen der Verbannung einher, nur eine wird übersehen. Im Alter von fünfzehn Jahren entdeckt Dornröschen einen Turm, hier trifft sie auf die Urheberin des Fluchs und wird von ihr zum Spinnen verführt. Sie fällt in einen hundertjährigen Tiefschlaf, der auch die höfische Gesellschaft erstarren lässt. Mit den Jahren verwildert das Schloss und wird von einer undurchdringbaren Dornenhecke verschlungen. Hundert Jahre ziehen ins Land ehe es einem Königssohn gelingt, sich zu ihr durchzukämpfen. Sie erwacht, der Hofstaat mir ihr, Dornröschen heiratet ihren Retter.
Die allgemein bekannte Variante der Brüder Grimm erweist sich beim Direktvergleich zu Perraults Fassung als harmloses Lehrstück über Ausgrenzung und Rache. Perrault jedoch erzählt die Geschichte einer Königsfamilie, denen der Verbleib der dreizehnten Fee nicht bekannt ist. Als diese nun plötzlich erscheint kommt es zu einigen folgenschweren Missverständnissen. Gekränkt spricht die erboste Fee ihren Fluch aus, er wird jedoch – wie auch bei Grimm – abgemildert. Einige Zeit zieht ins Land, da begegnet Dornröschen einer alten Frau, die nicht über das Spindelverbot informiert wurde. Die Prinzessin fällt in Ohnmacht, der König schickt einen Zwerg nach der guten Fee; sie wendet einen Zauber an und alle Lebewesen – mit Ausnahme des Königspaares – folgen Dornröschen in den Schlaf. Hundert Jahre ziehen ins Land und der nun regierende König entsendet einen Prinzen zu Dornröschen. Sie erwacht, man verliebt sich und führt ein Verhältnis im Verborgenen, denn die Mutter des Prinzen entstammt einer Kannibalenfamilie. Sie erfährt von der zukünftigen Schwiegertochter und schickt den Hofmeister, erst die Enkelkinder und dann die Schwiegertochter zu entführen, um sie zu verspeisen. Mittels einer List wird die Kannibalin getäuscht, doch als sie davon erfährt, befiehlt sie, eine Schlangengrube zu errichten um Dornröschen, die Enkelkinder, den Hofmeister, seine Familie und Diener zu töten. Im letzten Moment errettet der König die Unglückseligen. Vor Wut über das eigene Versagen richtet sich die königliche Kannibalin selbst hin.Der Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt, Nr. 124 von W. Simmler widmet sich der Geschichte von Dornröschen. Auch hier handelt es sich um einen Bogen, dessen Struktur nicht ganz eindeutig hervortritt. Bilderbogen mit Aststrukturen als Panelgerüst treten häufig auf, man vergleiche hierzu etwa Rothbarts Die Sternenthaler (Münchener Bildebogen Nr. 235, 1858). Jedoch zeigt sich bei genauerer Betrachtung ein erheblicher Unterschied: Während Rothbarts Bogen die Aststruktur lediglich als Rahmenalternative verwendet, sie folglich nicht als Teil des Bildes gewertet werden darf, gehört das Dornengeflecht Simmlers zum Bildinhalt und ergibt sich aus der Geschichte selbst, denn Dornröschens Elternhaus ist von so einem Geflecht umrankt und auch innerhalb des Geflechts finden sich Figuren, die nicht Teil des Panelinhalts sind.So ist
im Bereich Blau (1) ein schlafender Mensch zu erkennen, andere Teile des Dornengeflechts beherbergen Tauben, einen Pfau sowie einen Hund. Das Märchen wird in fünf Bildern nacherzählt, wovon allerdings nur drei die tatsächliche Handlung wiedergeben (1,2,5; dieser Bereich bildet zudem die drei Narrationsgruppen des Bogens) und die übrigen Bilder einzig markante Punkte der Geschichte illustrieren (3, 4) wie etwa der Koch, der den Küchenjungen ohrfeigt (4). Besonders interessant scheint hier das Hauptmotiv (5) zu sein. Man sieht den Prinzen und zukünftigen Ehemann Dornröschens den Spindelturm betreten, die Uhr im Hintergrund zeigt 11 Uhr 45 an, die der bekannte Redewendung „fünf vor zwölf“ nahekommt, die auf ein drohendes Unheil hinweist. Vermutlich handelt es sich um einen Zufall, jedoch könnte Simmler einen Verweis auf die drohende Gefahr durch die Spindel oder den drohenden Tod (der Schlaf als Abmilderung des Todes) eingefügt haben. Eine weitere Möglichkeit ergibt sich durch das Eintreffen des Prinzen: Er findet Dornröschen kurz bevor sie aus ihrem hundertjährigen Schlaf erwacht – die Uhr zeigt folglich an, dass ein Zyklus kurz vor der Vollendung steht.
Folgende Induktionsmethoden werden verwendet: (1) → (2) Von Szene zu Szene, (2) → (3) Von Szene zu Szene, (3) → (4) Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt, (4) → (Blau 1) Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt, (Blau 1; 4) → (5) Von Szene zu Szene.
Dornröschen selbst nächtigt nicht in einem Bett sondern ruht, mit dem Kopf an einem Bein der alten Frau gelehnt, die hinter ihr auf einem Sessel sitzend, schläft. In der linken Hand hält die unglückselige Prinzessin die Spindel. Eine Katze schläft auf der Fensterbank, ein Vogel ruht in seinem Käfig. Ein sehr ähnliches Motiv fertigte Gustave Doré an, der Dornröschen unter dem, an Perrault orientierten, Titel La Belle au bois dormant 1867 illustrierte, der wenige Jahre vor Simmlers Bogen (1869) entstand. Zwar wählt Simmler eine andere Perspektive und verleiht den Figuren auch andere Züge, jedoch gleichen sich diverse Bildelemente: Eine alte Frau ruht in einem Sessel und auch eine Katze, ein Vogel und ein Vogelkäfig sind zu sehen. Sowohl bei Simmler als auch bei Doré hält die alte Frau (deren Kleidung sich gleicht) eine Spindel in der Hand. Weitere Bilder Dorés zeigen die Kleidung des Prinzen – auch sie gleicht den Zeichnungen Simmlers. Insbesondere die alte Frau als Teil des Bildes überrascht und darf als Indiz für Simmlers Kenntnis von Perraults Märchen gewertet werden, denn bei Grimm tritt sie nicht in Erscheinung. Man könnte sie fälschlicherweise mit einer der weisen Frauen verwechseln, doch tragen sie, wie in Abschnitt 2 deutlich wird, grundlegend andere Züge. Der einfach strukturierte Bilderbogen präsentiert folglich eine Vermischung zweier Märchenfassungen, ohne einen eigenen Text abzudrucken. Die Panelfolge entspricht nicht der westlichen Leserichtung. Das Metapanel verwendet im Hauptpanel den Establishing Shot, weitere Perspektiven der Subpanel sind der Analysetabelle zu entnehmen. Auf der McCloud-Realismusskala befinden sich die Illustrationen in den Bereichen 60 – 64, 81 – 85 sowie 87 – 90, das Text-Bild-Verhältnis ist bildlastig, da ein Text fehlt.
Analysetabelle anzeigen …Dornröschen (Korpus 11) | |
Subpanel 1 | Bildmittelpunkt (BM): Dornröschen.
Fokus (F): Dornröschen. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Subpanel 2 | BM: König.
F: König. P: Augenhöhe. |
Subpanel 3 | BM: Wächter.
F: Wächter. P: Augenhöhe. |
Subpanel 4 | BM: Schlafender Koch und Bursche.
F: Schlafender Koch und Bursche. P: Augenhöhe. |
Subpanel 5 | BM: Alte Frau mit Spindel
F: Dornröschen. P: Augenhöhe. |
Ein weiterer Metapanelbogen, der für die Analyse ob seines Publikationsdatums von 1947 nicht relevante ist und nur der Vollständigkeit halber benannt wird, weist ebenfalls ein Dornröschenmotiv auf. Er wurde von Gerhard Gollwitzer gezeichnet und bei Karl H. Henssel verlegt. Hierbei handelt es sich um eine Malvorlage mit einer Metapanel-Typ-2-Struktur, die, wie Rapunzel oder auch Der Froschkönig, verschiedene Bildstationen einer Gebäudestruktur (hier: dem Dornröschenschloss) unterordnet. Einzig das große Fest und die herbeieilende, erboste Fee werden außerhalb / auf dem Dach des Schlosses abgebildet. Der Bogen unterscheidet sich in seinem Aufbau dennoch stark von ähnlichen Metapanelbogen. Ein in drei vertikale Ebenen unterteiltes Schloss teilt dem Rezipienten drei verschiedene Handlungsverläufe mit. während sich der rechte und linke Teil des Bogens dem Königspaar (links) bzw. dem Koch und seinem Burschen (rechts) widmet, erzählt der in der Mitte befindliche Turm einzig vom Schicksal Dornröschens. Sie findet die Spindel, sticht sich, fällt in einen tiefen Schlaf und ein Prinz errettet sie. Der Bogen wird von oben nach unten rezipiert, wobei die einzelnen Räume (Turmzimmer, Thronsaal und Küche) jeweils auf drei Ebenen abgebildet sind. Besonders überraschen hier die Induktionsmethoden im Küchenbereich: Die drei Subpanels werden Von Augenblick zu Augenblick miteinander verbunden.[1]
In Wien wurde um 1900 in den Bilderbogen für Schule und Haus (Nr. 38) im Verlag der Ges. für vervielfältigende Kunst in Wien ein Panelstrukturbogen publiziert, der von Heinrich Lefler stammt und das Märchen im Jugendstil illustriert. Anders als die bisher genannten Bogen wird hier im ersten Panel auch das Aufeinandertreffen der Königin mit einem Frosch illustriert: „Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, daß ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach: ‚Dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.“[2] Die Königin steht aufrecht im Wasser und wird nur von ihren langen blonden Haaren bedeckt, während der Frosch mit erhobenem Finger am Beckenrand sitzt und zu ihr spricht.[3] Ein weiteres bemerkenswertes Detail des Bogens: Eine Steinverzierung illustriert schlafende Menschen und erinnert an die Ideen Otto und Hans Speckters.[4]
Belege:
[1] Der Bilderbogen findet sich in: Kohlmann, Theodor et. al.: Berliner Bilderbogen aus zwei Jahrhunderten. Hrsg. von der Stiftung Stadtmuseum Berlin. Berlin 1999. S. 53.
[2] Grimm, Jacob und Wilhelm: Dornröschen. In: Kinder- und Hausmärchen. Band 1. S. 257.
[3] Vgl. Lefler, Heinrich: Dornröschen. Wien: Verlag der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien [um. 1900] (= Bilderbogen für Schule und Haus Nr. 38.).
[4] Zu Fassadendetails und Panels als Teil der Bildrealität siehe auch: Rapunzel nach Grimm von Otto Speckter 1857., Der Froschkönig nach Grimm. und Die drei Spinnerinnen.