In den Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt lassen sich einige besondere Bogen ausmachen, die in dieser Form nur im Stuttgarter Verlag zu finden sind. Zur Analyse liegen acht dieser Musikbogen vor, die einige strukturelle Besonderheiten aufweisen und den Analyseteil der Panelstrukturen beschließen. Alle Bogen adaptieren Volkslieder; somit erfolgt anstelle der texthistorischen Betrachtung eine musikhistorische.
Lob der edlen Musica findet sich im Allgemeinen Deutschen Commersbuch von 1859 und unterscheidet sich in der Notation nur marginal von der Bilderbogenvariante. Nach einem Auftakt (eine Taktangabe fehlt im Deutschen Bilderbogen) erfolgt der erste größere Notationsfehler: Anstelle einer punktierten Viertelnote und einer darauffolgenden Achtelnote – beide C5 – werden zwei Viertelnoten verwendet, was weniger melodische denn rhythmische Auswirkungen nach sich zieht. Ebenfalls ändert sich die Phrasierung des Textabschnitts „[Musi]kante marschierte“ von „ka-an-te“ (Commersbuch) zu „kan-te marschierte“ (DBB Nr. 7), was sich allerdings nicht auf die Notierung, sondern die ungenaue Beschriftung zurückführen lässt. Weiterhin fehlen im darauffolgenden Takt des Bilderbogens zwei Verzierungen (Noten). Der letzte Takt des ersten Teils endet auf einer scheinbar nicht punktierten halben Note – diese Ungenauigkeit könnte aber auch auf einen Druckfehler zurückzuführen sein. Im weiteren Verlauf gleichen sich die Notationen, lediglich die Interpunktion des Liedtextes weicht ab (anstelle eines Ausrufezeichens findet sich im Deutschen Bilderbogen Nr. 7 ein Punkt). Auch weitere Abweichungen sind nur noch textlicher und überdies zu vernachlässigender Natur. So werden „o tempora, o mores!” und auch sonstige Wiederholungen abgekürzt (o temp. o mor.).[1]
Während die Panels 1 bis 3, sowie 4 und 5 exakt den Vorgang der jeweiligen Strophe illustrieren, verschmelzen Musik und Bild in Panel 4 auf bemerkenswerte Weise: Das Panel nimmt wie auch Panel 1 die Breite des Bogens ein und zeigt den Musikanten auf einem gesichtsähnlichen Steinblock sitzend. Ein Krokodil zerstört währenddessen die umstehenden Pyramiden. Der Text wird, anders als bisher, parallel zum Panel abgedruckt. Eine Unterteilung durch Striche findet nicht statt. An ihrer Stelle wurden Leerstellen eingefügt, was zu einer Unterteilung des Bildes durch den Text führt. Während also der Rezipient die Strophe singt, folgen seine Augen dem Bild von links nach rechts – der Fokus sowie der Bildinhalt werden auf musikalische Art gelenkt. Die Geschwindigkeit der Musik legt die Rezeptionsgeschwindigkeit des Textes fest, dieser führt die Augen des Rezipienten durch das Bild.
Analysetabelle anzeigen …Deutscher Bilderbogen Nr. 7: Lob der edlen Musica. |
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Panel 1 | Text (T): „Ein lust’ger Musikante marschirte einst am Nil, o tempora o mores. // Da kroch aus dem Wasser ein großes Krokodil, o tempora o mores. // Der wollt ihn gar verschlucken, wer weiss wie das geschah? Juchheirassassa, o tempo tempora, gelobet seist du jederzeit Frau Musica.“
Bild (B): Musikant mit Violine wird von Krokodil in seinen Frack gebissen, hinter ihm sind die Pyramiden zu sehen (sieben an der Zahl), umrahmt wird das Bild von tropischen Pflanzen; die Partitur des Volksliedes bildet einen Halbkreis im Bild, auf ihr klettern zwei Affen. Fokus (F): Krokodil und Musikant. Bildmittelpunkt (BM): Pyramide. Perspektive (P): Establishing Shot / Auf Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 2 | T: „Da nahm der Musikante seine alte Geigen, o temp. o mor. // Und thät mit seinem Bogen fein darüber streichen, o temp. o mor. // Allegro, dolce, presto, wer weiß, wie das geschah? // Juchheirassassa, o tempo tempora, // Gelobet seist du jederzeit Frau Musica!“
B: Musiker geigt für das Krokodil vor den Pyramiden. F: Musiker und Krokodil. BM: Pyramide / Schnauze des Krokodils. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 3 | T: „Und wie der Musikante den ersten Strich gethan, o temp. o mor. // Da fing der Krokodile gar schön zu tanzen an, o temp. o mor. // Menuett, Galopp und Walzer, wer weiß wie das geschah? // Juchheirassassa, o tempo tempora, // Gelobet seist du jederzeit Frau Musica!“
B: Musikant spielt Violine, das Krokodil tanzt und wirbelt Sand auf. F: Musikant / Krokodil. BM: Aufgewirbelter Sand vor dritter Pyramide. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 4 | T: „Er tanzte wohl im Stande im Kreise herum, o temp. 2C. Und tanzte sieben alte Pyramiden um, o temp. 2C. Denn die sind lange wacklicht, wer weiß wie das geschah? Juchheirassassa, o tempo tempora, // Gelobet seist du jederzeit Frau Musica!“
B: Musikant sitzt auf schädelähnlichem Felsen, die Pyramiden stürzen ein, das Krokodil tanzt. F: Ändert sich beim Rezeptionsvorgang vom Musikanten zu den Pyramiden zum Krokodil. BM: Staubwolke vor Pyramide und unter der Schnauze des Krokodils. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Handlung zu Handlung |
Panel 5 | T: „Und als die Pyramiden das Teufelsvieh erschlagen, o temp. o mor. // Da dacht‘ er an ein Wirthshaus und sorgte für seinen Magen, o t. 2C. // Tokeierwein, Burgunderwein, wer weiß wie das geschah? // Juchheisassasa, o tempo tempora, // Gelobet seist du jederzeit Frau Musica.“
B: Die Violine liegt im Sand neben des Musikers Zylinder. Dieser tupft sich den Schweiß von der Stirn. Unter den Pyramiden begraben liegt das Krokodil, von dem nur noch eine Klaue und sein Schwanz hervorgucken. F: Musiker. BM: Zerstörte Pyramidenspitze / Seitenfläche. P: Augenhöhe. |
Indmeth. | Von Gegenstand zu Gegenstand. |
Panel 6 | T: „Eine Musikantenkehle, die ist als wie ein Loch, o temp. o mor. // Und hat er noch nicht aufgehört, so trinkt er immer noch, o temp. 2C // Und wir, wir trinken mit ihm, wer weiß, wie das geschah? // Juchheisassasa, o tempo tempora, // Gelobet seist du jederzeit Frau Musica!“
B: Der Musiker sitzt im Hof eines ägyptischen Restaurants. Der Eingang ähnelt dem einer Pyramide, über ihm ist ein eingemeißeltes Bild trinkender, ägyptischer Götter zu sehen. Rechts im Bild steht eine männliche Sphinx. Die Violine lehnt neben dem Zylinder an einer Säule. Der Musiker sitzt auf einem umgedrehten Kapitäl (verzierter oberer Teil einer Säule) und prostet dem, an einen Pharao erinnernden Wirt zu, der ihm weiteren Wein bringt. Auf einem Tisch, der ebenfalls aus einem Kapitäl besteht liegt ein Korkenzieher, daneben stehen leere Weinflaschen sowie ein weiteres Glas. Eine Weinflasche liegt vor dem Kapitäl. F: Weinglas. BM: Weinflaschen auf Kapitäl. P: Augenhöhe. |
Der Bogen teilt sich in drei Narrationsgruppen auf. Panel 1 bis 4 (Gruppe 1), Panel 4 und 5 (Gruppe 2) und Panel 6 (Gruppe 3), Gruppe 1 und 2 überschneiden sich. Gruppe 1 zeigt das Zusammentreffen des Musikanten mit dem Krokodil, das Reptil zerstört die Pyramiden und wird unter ihnen begraben (Gruppe 2). Die letzte Gruppe wechselt die Szene und berichtet von der Einkehr des Musikanten in einem ägyptischen Restaurant. Der ereignisfixierte Bogen verwendet als Induktionsmethoden überwiegend Handlungsübergänge, der Übergang von Panel 5 zu 6 findet Von Gegenstand zu Gegenstand statt – denn der Ort des Geschehens wechselt, die Szene bleibt aber innerhalb eines Gedankens.[2] Somit bilden Panel 1 bis 3 auch eine Panelgruppe, denn zwei Subjekte werden bei der Ausführung mehrerer enge beieinander liegender Handlungen in einer einheitlichen Szene gezeigt.
Perspektivisch bleibt Reinhardt konsequent Auf Augenhöhe, lediglich Panel 1 dient parallel dazu als Establishing Shot und zeigt, dass der Bogen in Ägypten vor den Pyramiden spielt. Die Panels wurden nicht gesondert umrahmt; sie enden mit der Zeichnung, d. h. die Ränder der gezeichneten Objekte bestimmen seinen Umfang. Im Fokus der einzelnen Bilder steht – bis zum Ableben des Reptils, der Musikant und das Krokodil. Nach seinem Tode bleibt der Überlebende fokussiert. Figuren und Umgebung werden detailliert wiedergegeben, eine Stilisierung findet dennoch statt. Auf der McCloud-Realismusskala nehmen sie den Bereich 60 bis 64 sowie 81 bis 83. Wie aus der Tabelle hervorgeht, gestaltet sich das Bild- / Text-Verhältnis gedoppelt, d. h. was der Text beschreibt, befindet sich im Bild und es werden keine weiteren Informationen hinzugefügt. Lediglich Panel 6 fügt einen an einen Pharao erinnernden Wirt hinzu und es findet eine Überschneidung statt. Ein weiterer Bogen, der sich des Liedes annimmt, findet sich laut Eckart Sackmann in den Neuruppiner Bilderbogen Gustav Kühns mit der Nummer 9625, zwischen 1900 und 1905 publiziert.[3]
Bei den Musikbilderbogen der Deutschen Bilderbogen für Jung und Alt handelt es sich, wie die Analyse zeigt, um einen bemerkenswerten Sonderfall, denn sobald die Rezeptionsgeschwindigkeit nicht mehr länger nur einem Text unterliegt, sondern durch eine Partitur beeinflusst wird, die zur Rezeption während des gemeinschaftlichen Singens auffordert, spielt Zeit neben der Räumlichkeit eine größere Rolle als in anderen Bilderbogen. Die Analyse weist auf zwei Arten des Musikbilderbogens hin. Musikbilderbogen Typ 1 weist eine Partitur auf, die in ein Panel eingefügt wird oder gesondert steht – weitere Strophen müssen dem Text zugeordnet werden. Zu ihm gehören Lob der edlen Musica, Bruder Straubinger, Schneider's Höllenfahrt, ’S war ’mal eine kleine Mann, Die Hussiten zogen vor Naumburg. Typ 2 beschreibt eine Partitur in Panel 1/2, weitere Strophen werden direkt unter das jeweilige Panel gedruckt und teilen ein Panel mit Bogenbreite in weitere Teilbereiche ein. Zu diesem Typ gehören Grad‘ aus dem Wirtshaus, Im schwarzen Wallfische zu Askalon und Hildebrand und Hadubrand. Zwei der drei Bogen wurden von Carl Ludwig Reinhardt geschaffen, dessen Stil sich deutlich weiterentwickelt und mit Lob der edlen Musica den Partiturbogen erfand, ein weiterer stammt aus der Feder Paul Konewkas und zeigt sich deutlich von ersterem beeinflusst.
Belege:
[1] Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt Nr. 7: Lob der edlen Musica.
[2] Vgl. McCloud, Scott: Comics richtig lesen. S.79. und: McCloud, Scott: Comics machen. S. 16.
[3] Vgl. Sackmann, Eckart: Neuruppiner Bilderbogen. Unveröffentlichte Auswertung des Zettelkatalogs der Neuruppiner Bilderbogen Gustav Kühns und Oehmigke & Riemschneiders. Ohne Datum.