Der Neuruppiner Bilderbogen Gustav Kühns teilt das Zuordnungsproblem von Der Rattenfänger von Hameln, denn er scheint sich strukturell an Bogen wie Die Weiber=Mühle (Neuruppiner Bilderbogen Nr. 5772, Gustav Kühn, 1872) oder Die sieben Stände im menschlichen Leben (Neuruppiner Bilderbogen Nr. 7288, Gustav Kühn, 1882) zu orientieren. Sie alle sind nicht sequenziell, werden den simultanen Einzelbildern zugeordnet. Jedoch bestehen zu diesen Einzelbildillustrationen einige wichtige Unterschiede, denn Der Weg des Himmels und der Weg der Hölle weist im Gegensatz zu ähnlichen Bogen eine Sequenz auf und zählt zum Metapanel Typ 1.
Der Weg des Himmels und der Weg der Hölle präsentiert drei Wege, die der Leser nicht nur in seinem eigenen Leben, sondern auch exemplarisch auf dem vorliegenden Bild, verfolgen kann:
Die Vorstellung vom Lebensweg, den es zu gehen gilt, ist vielen Völkern gemeinsam. Ebenso lehren verschiedene Religionen, daß der Weg zur Seligkeit steil und mühsam ist. In alchimistischen Initiationen […] oder im Märchen muß man unter mehreren Wegen den einen wählen, der zum Ziel führt. Das Bild von der engen Pforte, die auf diesem Weg zu durchschreiten ist, kommt oft hinzu. Matthäus (7,13/14) stellt diesem schmalen Pfad den bequemen und breiten Weg entgegen, der mit der Verdammnis endet. Die Kirchenväter haben diese Evangelienstelle paraphrasiert […].
Mittelalterliche Traktate schmückten den Gedanken vom mühseligen Pfad, der zum himmlischen Jerusalem emporführt, aus. Bei Rudolf von Biberach (14. Jahrhundert) gibt es sieben Wege zur Ewigkeit. Andere Schriften kennen ‚drei Tugendwege‘, ‚Vier Wege aus Armut zum ewigen Reichtum‘, ‚Fünf Wege zum ewigen Leben‘ usw. Das Leben wird mit einer Pilgerfahrt verglichen. Die Gesta Romanorum erzählt eine Parabel von zwei Rittern, die zwischen einer mühsam zu erreichenden Stadt auf dem Berg und einer mit bequemer Straße, die im Tal gelegen ist, wählen müssen. Predigten und Erbauungsliteratur machen das Motiv populär, so daß es sich schließlich – aber erst im 19. Jahrhundert? – unter den Bilderbogenthemen findet. […] Das gleiche Thema gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in der deutschen Bilderbogenfabrikation.[1]
Religiöse Darstellungen von Lebenswegen gehen demnach auf eine lange Tradition zurück. Alle Bogen dieser Art, die außerhalb des Korpus bestimmt werden konnten, erzählen, wie auch der Untersuchungsgegenstand selbst, eine identische Geschichte mit teils unterschiedlichen Textstellen: Ein Weg führt durch einen Torbogen, der vom gekreuzigten Jesus Christus bewacht wird. Er spricht: „Ich bin die Thür, wer durch mich ein=tritt, ist gerettet.“[2] Hinter dieser Tür befinden sich fromme Menschen. Sie sagen: „Herr, habe Mitleid mit uns.“ und „Empfindet und sehet, wie groß die Güte des Herrn ist.“ Wer diesem Weg folgt, steigt ins Himmelsreich auf, das mit den Worten „Die heilige Dreieinigkeit.“ beschriftet und von rosa Wolken umgeben ist. Hier sind Heilige zu sehen, die unterschiedlich große Kreuze tragen und von einer gelbgewandeten Frau angebetet werden. Ein Palast verkörpert das Himmelreich, Türen und Fenster befinden sich unter einem Gottessymbol (Auge in der Pyramide). Vor dem Palast steht ein Apfelbaum. Man könnte mutmaßen, dass es sich um den Baum der Erkenntnis handelt, der immer wieder – wenn auch nicht in der Bibel selbst – als Apfelbaum bezeichnet wird.[3].
Der zweite Weg führt direkt in die Hölle. Interessanterweise finden sich auf diesem Weg nicht nur Wucherer etc., sondern auch ein Priester und ein König. Während die Menschen auf dem Weg zum Himmel noch selbst zu sprechen scheinen und Gott um Hilfe bitten, werden die Personen auf dem Weg zur Hölle mit mahnenden, teils spöttischen, Kommentaren bedacht: „Wucherer, glaubt ihr mit Gold das Himmelreich zu gewinnen?“, „Mit dem Maß, so du andere mis=sest wird dir wieder gemessen“,[4] „Wir glaub=ten den rechten Weg zu nehmen, al=lein wir haben ihn verfehlt“, „Die Gottesgerechtigkeit ist nicht wie die der Menschen“, „O thörich=ter Sün=der, was wirst du Gott antworten, der alle deine Sünden weiß.“,[5] „Lohn der Ungerechten“ und „Die Stunde des Todes ist gekommen.“ Ein Weg ohne Pforte und ohne Anstrengung der direkt in die Hölle führt. Auf jenen, der ihn beschreitet, wartet, auf einer Wolke sitzend, der Engel des Todes (dargestellt mit Flügeln und einer Sense). Hinter ihm bricht der Weg ab und die Sünder fallen direkt in die Flammen der Hölle.Der zweite Weg in die Hölle (und somit der dritte Lebensweg) führt durch „Die weite Pforte“, ein für jedermann offen einsehbarer Torbogen. Feiernde und musizieren Menschen gehen auf „Die Pforte der täu=schenden Hoffnung.“ zu. Sie versperrt den Blick auf die Hölle. Zwischen der Pforte und dem Torbogen findet sich folgender Text: „O thörichte Sünder! tretet immer ein durch die Pforte der täuschenden Hoffnung, die Hölle wird euer Lohn sein.“ Im Vergleich zum Himmelreich wird die Hölle als trostloser Ort dargestellt, einer, in dem Dämonen und ein Teufel mit Dreizack auf die Sünder warten. Menschen, die bereits in der Hölle verweilen, sind von Flammen umgeben und werden gequält.
Im Gegensatz zu den oben genannten, ähnlichen Bogen (Die Weiber=Mühle., Korpus 52 und Die sieben Stände im menschlichen Leben., Korpus 53), unterscheidet sich Der Weg des Himmels und der Weg der Hölle strukturell von ihnen, denn er bezieht den Rezipienten als Teil des Bildes ein. Dies gelingt zum einen mit Hilfe von Identifikationsfiguren aus dem damaligen Leben, zum anderen bezieht die Art der Rezeption den Rezipienten in das Bild mit ein, denn er folgt während der Text-Bild-Rezeption den Wegen des Sünders oder des gottesfürchtigen Menschen und wird somit durch das Bild gelenkt (der Text entspricht nicht, bzw. nur eingeschränkt der westlichen Leserichtung). Diese Lenkung unterstreicht den sequenziellen Charakter des Bogens, der dem Metapanel Typ 1 zugeordnet wird, denn das Bild bestimmt den Bogen und es sind keine deutlichen Unterteilungen zu finden – obwohl sie in Form des Textes und der drei Wege vorhanden sind. Zudem wird der Leser mittels eines begleitenden Textes durch das Bild geführt. Diesmal steht der Text jedoch nicht außerhalb des Bildes, sondern im Bild selbst und findet sich an der jeweiligen Station wieder, die vom Leser genauer betrachtet werden soll. Im Gegensatz zu Rinaldo Rinaldini (Korpus 629) oder Der Rattenfänger von Hameln (Korpus 225) gestaltet sich die Reihenfolge der Rezeption relativ frei. Welchem Weg man folgen wird, bleibt dem Leser (nicht nur auf dem Bogen, sondern auch im richtigen Leben!) selbst überlassen. Das Text-Bild-Verhältnis ist ein überschnittenes, d. h. beide Elemente fügen dem Bogen wichtige Informationen hinzu. Der Bogen verwendet die Induktionsmethode Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt und der Bildmittelpunkt entspricht hier auch dem Fokus (dem Weg). Panel- und Narrationsgruppen sind nicht vorhanden. Das Bild verwendet die Perspektive Establishing Shot. Auf der McCloud-Realismusskala belegt der Stil des Bogens den Bereich 87 – 90. Der Text basiert, wie sich in der Analyse zeigt, auf religiösen Texten.
Wie bereits der oben zitierten Passage von Klaus Gallwitz aus Französische Bilderbogen des 19. Jahrhunderts zu entnehmen ist, existieren auch in Frankreich Bogen derselben Art. In jener zitierten Publikation findet sich ein Bogen von 1825/1850, der von Francois Georgin entworfen bei A. Epinal (Pellerin) erschien und in seinem Aufbau an den Neuruppiner Bilderbogen Gustav Kühns von 1831/62 (Korpus 46) erinnert:[6] Les trois Chemins de l’Éternité. (Die drei Wege zur Ewigkeit) verbindet ebenso wie sein deutscher Pendant diverse Zitate mit Lebenstationen auf dem jeweilig beschrittenen Weg und präsentiert ebenfalls drei Türen / Torbögen, die ein Mensch durchschreiten kann. Ähnliche Textpassagen lassen sich bestimmen, so weist Les trois Chemins de l’Éternité. z. B. ebenfalls auf den nahenden Tod hin, wie Der Weg des Himmels und der Weg der Hölle. („L’heure est sonnée, il faut mourir“).[7] Ein Textkasten im unteren Bereich des Bogens erläutert die Philosophie des Bogens:
Voyez, voici la Porte large , sans cesse ouverte à tout venant ; chacun y entre sans obstacle. Qui veut gagner argent et biens, doit y porter ses pas en hâte. Des milliers ont déjà passé, jaloux d’honneur et de fortune : pour la volupté, l’ambition, il n’est pas un autre chemin ; les chants, la danse et la musique forment des passagers l’escorte ; petits et grands , pauvres et riches , tous croient , en suivant cette route aller dans le sein d’Abraham.[8]
Auch dieser Bogen berichtet demnach von einem breiten Tor, welches für alle Menschen offen steht und dennoch zur Verdammnis führt, denn der Weg besteht aus gotteslästerlichen Eigenschaften und Aktivitäten wie Eifersucht, Ehre, Gesang und Tanz.
Der französische Bogen wurde „von Firmen in Rennes, Tours und Weißenburg kopiert“.[9] In Anbetracht des hier analysierten Bogens aus Neuruppin, kann dieser Aufzählung auch eine Kopie aus Ostdeutschland hinzugefügt werden. Ein weiterer französischer Bogen, dessen bibliografische Daten leider nicht aufzufinden sind und der sich in der Sammlung des Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée in Marseille befindet, zeugt von noch größerer Ähnlichkeit zum Neuruppiner Exemplar und wird der Vollständigkeit halber ebenfalls abgedruckt.[10]
Weitere Bilderbogen und Grafiken dieser Art / Weiterführende Links:
Princeton University: Graphic Arts Collection. The Many Roads To Hell. [konsultiert am 14.03.2019].
Belege:
[1] Gallwitz, Klaus: Französische Bilderbogen des 19. Jahrhunderts. S. 35.
[2] Vgl.: Joh. 10:9. Lutherbibel 2017. „Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden.“ und: Joh. 10:9. Neue Genfer Übersetzung. „Ich bin die Tür: Wenn jemand durch mich eintritt, wird er gerettet werden.“
[3] Gen. 3,3. Lutherbibel 2017.
[4] Vgl. hierzu auch: Singer, Samuel: Thesaurus proverbiorum medii aevi: Linke – Niere. Berlin 1999. S. 206. „,Genau mit dem Mass, mit dem ihr messt, mit dem wird euch wieder gemessen‘ Grieshaber, Pred. I, 56.“
[5] Vgl. hierzu auch: Kempis, Thomas: Die Nachfolge Christi von Thomas von Kempis, neu übersetzt und mit einer Nachlese und Anwendung zu jedem Kapitel versehen von Johannes Gossner. Leipzig 1839. S. 80. „O! du elender, thörichter Sünder! Was wirst du Gott antworten, der alle deine Sünden weiß, da du schon vor dem Anblicke eines zornigen Menschen zitterst?“
[6] Die Datierung des Bogens wird unterschiedlich angegeben. Während ihn Klaus Gallwitz auf 1850 datiert (Vgl. Gallwitz, Klaus: Französische Bilderbogen des 19. Jahrhunderts. S. 35.), nennt die Cornell Universität das Jahr 1825. (Vgl. Georgin, François: The 3 Roads to Eternity. https://digital.library.cornell.edu/catalog/ss:3293750 [konsultiert am 30.11.2017].) Vor 1837 wird der Bilderbogen vom Musée des Civilisations de l'Europe et de la Méditerranée, Marseille datiert. (Vgl. Anonymus: Les Trois chemins de l’éternité. https://www.photo.rmn.fr/archive/03–011597-2C6NU04PNM19.html [konsultiert am 30.11.2017].)
[7] Georgin, François: The 3 Roads to Eternity.
[8] Etwa: „Siehe, dies ist das breite Tor, das sich unaufhörlich allen, die kommen, öffnet; jeder betritt es ungehindert. Wenn Sie Geld und Güter verdienen wollen, müssen sie schnell handeln. Tausende sind schon vorbeigegangen, eifersüchtig auf Ehre und Reichtum: für Sinnlichkeit, Ehrgeiz ist es kein anderer Weg; Lieder, Tanz und Musik begleiten die Passagiere; klein und groß, arm und reich, alle glauben, dass sie auf diesem Weg in Abrahams Schoß gehen.“ (Übersetzung JA)
Georgin, François: The 3 Roads to Eternity.
[9] Gallwitz, Klaus: Französische Bilderbogen des 19. Jahrhunderts. S. 35.
[10] Anonymus: Les trois chemins de l’éternité. https://www.photo.rmn.fr/archive/05–526644-2C6NU0B7YGQ1.html [konsultiert am 30.11.2017].