(Zur Panelstrukturvariante hier entlang)
Schneewittchen zählt zu den beliebtesten Märchen unserer Zeit und wird oft sogar als prototypisches Märchen angesehen. Unzählige Male wurde es in andere Medien übertragen – ob als Bilderbogen, Comic, Roman, Singspiel,1 Zeichentrick- und Realspielfilm. Zuletzt entstanden gleichzeitig vier Verfilmungen von unterschiedlicher Qualität (Snow White and the Huntsman, der deutlich werkgetreuere Mirror Mirror, der Mockbuster2 Grimm‘s Snow White – alle von 2012 – sowie, 2014, der Pornofilm Snow White XXX: An Axel Braun Parody). Das Märchen existiert in verschiedenen Fassungen, die älteste etwa geht auf Musäus zurück (Richilde, 1782–86), andere Versionen stammen von Albert Ludwig Grimm (1809) und den Brüdern Grimm – teilweise unterscheiden sich diese verschiedenen Bearbeitungen enorm vom heute bekannten Märchen. So lebt Schneewittchen bei Albert Ludwig Grimm während ihrer Verbannung auf einem gläsernen Berg,3 Musäus widmet sich explizit ihrer Mutter Richilde4 und die Brüder Grimm berichten in der handschriftlichen Urfassung von 1810 von einem grausigen Ritual, in dessen Zentrum ein Schneewittchen steht, dessen Körper zu einer Marionette umfunktioniert wird: "Eines Tages kehrte der König […] in sein Reich zurück u. musste durch denselben Wald gehen, wo die 7 Zwerge wohnten. […] Er hatte aber in seinem Gefolg sehr erfahrne Ärzte bei sich, die baten sich den Leichnam von den Zwergen aus, nahmen ihn u. machten ein Seil an 4 Ecken des Zimmers fest u. Schneeweißchen wurde wieder lebendig."5
Die allgemein bekannte Fassung entspricht jedoch der Grimm’schen Ausgabe letzter Hand von 1857, an der sich auch der eingeschränkt sequenzielle Bilderbogen des Metapanelstrukturtyps 2 von 1890 orientiert.
Eine Prinzessin wird geboren, die Mutter verstirbt. Der Vater heiratet erneut und übersieht die Grausamkeit und Selbstsucht seiner Gattin. Sie verachtet ihr Stiefkind für ihre Jugendlichkeit und Schönheit, beauftragt einen Diener mit der Ermordung und Ausweidung der Kindfrau, um anschließend ihre Organe zu verspeisen. Dem Mädchen gelingt die Flucht in den tiefen Wald und sie versteckt sich bei sieben Zwergen. Wenig später erfährt die boshafte Königin von Schneewittchens Flucht und versucht sie auf nun deutlich kreativere Weise selbst zu ermorden, was ihr auch mittels eines giftigen Apfels vorerst gelingen wird. In einem Glassarg aufgebahrt, wird sie von einem Prinzen entdeckt, der sich in den Leichnam verliebt und ihn versehentlich wieder zum Leben erweckt, denn beim Abtransport des Sarges entweicht der giftige Apfel. Das Mädchen erwacht, man beschließt zu heiraten und foltert die Stiefmutter zu Tode.
Der bildlastige Bogen (ein Text fehlt) erzählt die Geschichte innerhalb diverser Fenster, die Teil eines seitenbestimmenden Rahmensystems sind, die Geschichte wird folglich der Seitenstruktur untergeordnet und entspricht weitestgehend der westlichen Leserichtung (mit Ausnahme des Subpanels 2*) Dabei erinnert die Form der Metapanelstruktur an das Fenster einer Burg – der oberen Teil des Bildes präsentiert darüber hinaus mehrere Fenster, während die Bilder unter dem Hauptfenster (6) an Wandmalereien erinnern. Bildabschnitt 1 zeigt Schneewittchens Mutter, die auf die Geburt ihres Kindes wartet, das ihr von einem Storch gebracht wird. Es folgt ein Sprung in der Erzählung, denn den Tod der Mutter sieht man nicht. Der Blick wird nun in die Mitte des oberen Bildabschnitts gelenkt, ein Fixpunkt, der mehrfach rezipiert werden muss (2*).6 Schneewittchens Stiefmutter begutachtet sich vor ihrem magischen Spiegel, eine Schlange, die das Subpanel überschreitet, verweist – ebenso wie der Storch in (1) – auf den Metapanelcharakter des Bildes, denn das Subpanel bildet keinen festen Rahmen, stellt nur bedingt einen festgelegten Weltausschnitt dar. Weiterhin wird der Jäger präsentiert, der Schneewittchen entkommen lässt (3), er wurde zwischen (1) und (2) positioniert, in (4) erreicht das Mädchen die Zwergenhütte und in (5) erscheint an ihrem Fenster die verkleidete / verzauberte Stiefmutter um ihr einen giftigen Apfel zu schenken. Auf weitere temporäre Todesursachen des Schneewittchens wird neben den unteren Ecken des Bildabschnitt 8 verwiesen: Zwei Wappen bilden einen goldenen Apfel und einen Kamm ab.7 Die Bildabschnitt Blau 1 und Blau 2 umrahmen nun Abschnitt 6, der das Bild dominiert. Ein großes Subpanel wird von zwei kleineren umrahmt. Diese Verzierungspanels wirken im ersten Moment unwichtig, bestimmen aber die umrahmte Szenerie. Sie zeigen die Dauer des Todes von Schneewittchen mit Hilfe des ebenfalls weinenden Mondes an, denn es wurden auch verschiedene Mondphasen abgebildet.8 Unterschiedliche Panelgrößen werden genutzt, um zeitliche Abläufe festzulegen. Je größer das Panel ausfällt, desto umfangreicher gestaltet sich die abgebildete Zeit.9 Der gezeigt Bildinhalt nutzt simultane Darstellungen. Unter einem Baum ruht das zeitweise verstorbene Schneewittchen in einem Glassarg, wo sie von Zwergen betrauert (links) bzw. bewacht (am rechten Fußende des Sarges) wird. Selbst die Tiere trauern. Ein Uhu, der sich etwas versteckt im Baum über ihrem Sarg befindet, weint; auch ein Reh und ein Hase trauern. Ihr Sarg ruht indes auf einem Felsen, der dem Zwergenheim10 Schutz bietet. Im Hintergrund sieht man den Königssohn herannahen, ein Frosch winkt den Zwergen zu. Im siebten Bildabschnitt erblickt man nun das wiederbelebte Schneewittchen. Abschnitt 8 bebildert die Hochzeit der Protagonistin, deren Haare im Übrigen eher blond als schwarz wirken.11 und auch die Fassung von 1812/15 erwähnt das Haar nicht explizit: „Und weil das Rothe in dem Weißen so schön aussah, so dachte sie: hätt ich doch ein Kind so weiß wie Schnee, so roth wie Blut und so schwarz wie dieser Rahmen. Und bald darauf bekam sie ein Töchterlein, so weiß wie der Schnee, so roth wie das Blut, und so schwarz wie Ebenholz, und darum ward es das Schneewittchen genannt.“ 12 Ihre Schleppe tragen die sieben Zwerge; zwei von ihnen führen den Hochzeitszug an. Das letzte Bild des Bogens zeigt die zu Tode gefolterte Stiefmutter. Ihr Schicksal wurde jedoch abgemildert (und in Subpanel 8 nur angedeutet) – anstatt explizit die Folterung zu präsentieren beschränkt man sich auf eine tote Frau, um deren Hals eine Schlinge liegt, deren Ende von einer Krähe im Schnabel gehalten wird.
Der Bogen überrascht durch mehrere erzählerische Einfälle. Ein explizit begleitender Text fehlt, es kann davon ausgegangen werden, dass Sneewittchen 1890 bereits sehr bekannt war. Der obere Teil des Bildes erzählt nahezu sequenziell, jedoch wurde zwischen (1) und (2*) ein weiterer Bildabschnitt platziert (3). Diese Störung des sequenziellen Verlaufs scheint durch die zentrale Position von (2*) bedingt zu sein, denn die Stiefmutter befragt im Märchen immer wieder ihren magischen Spiegel. Auf den ersten Blick scheint im Bilderbogen nur ein Mordversuch abgebildet zu sein (Tod durch den vergifteten Apfel). Verzierungen am Rande des achten Subpanels verweisen aber auf eine weitere Todesart (Kamm). Abschnitt 2* wird somit zweimal gelesen – die Positionierung innerhalb des Bogen erscheint nun logisch. Besonders die Darstellung der Mondphasen überrascht: Ein abnehmender Sichelmond steht einem Vollmond gegenüber, es vergehen demnach ungefähr fünfzehn Tage, ehe Schneewittchen wieder zum Leben erwacht. Die Mondphasen bzw. die abgebildeten Zwerge erlauben einen weiteren Schluss: Werden die Bilder als direkt aufeinanderfolgend gelesen, lässt sich eine in Metapanels seltene Induktionsmethode, Von Augenblick zu Augenblick, bestimmen, denn beide Inhalte ändern sich nur minimal und weisen auf eine Panelgruppe hin.
Folgende Induktionsmethoden werden verwendet: (1) → (2) Von Szene zu Szene, (2) → (3) Von Szene zu Szene, (3) → (4) Von Szene zu Szene, (4) → (5) Von Szene zu Szene, (5) → (B1) Von Szene zu Szene (B1) → (6) Von Szene zu Szene (6) → (B2) Von Szene zu Szene (B2) → (7) Von Szene zu Szene, (7) → (8) Von Szene zu Szene, (8) → (9) Von Szene zu Szene. Weitaus komplexer gestaltet sich nun die Untersuchung des blaumarkierten Subpanels. Der Übergang von (Blau 1) zu (Blau 2) dauert mehrere Tage, deshalb erscheint Von Szene zu Szene passend. Der Zwerg dreht sich aber nur minimal und auch die Mondphase selbst ändert sich kaum, d. h. es wurde gleichzeitig Von Augenblick zu Augenblick verwendet. Durch die Verwendung dieser Induktionsmethode bildet sich im blauen Bereich eine Panelgruppe, denn ein Bewegungsverlauf wird in mehrere Subpanels unterteilt. Weiterhin finden sich vier Narrationsgruppen: Gruppe 1 umfasst das Subpanels (1), Gruppe 2 die Subpanels (2*) bis (5), Gruppe 3 Subpanel (6) und Gruppe 4 Subpanel (7) bis (9). Auf der McCloud-Realismusskala belegen die Illustrationen den Bereich 69 – 71 sowie 92 – 94. Das Metapanel verwendet einen Establishing Shot, die Perspektiven der Subpanels sind der Analysetabelle zu entnehmen.
Eine Darstellung wie in Subpanel 8, die Hochzeitsgesellschaft um Schneewittchen und den Prinzen, lässt sich auch in einem Panelstrukturbogen von Heinrich Lefler bestimmen, der nach 1900 in der Reihe der Bilderbogen für Schule und Haus (Nr. 38) im Verlag der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien erschien,13 hier aber Dornröschen und ihren Prinzen abbildet. Der Direktvergleich beider Bildausschnitte überrascht, denn beide (Sub-)Panels unterliegen einer Dreiteilung. Das Hochzeitspaar bildet die Mitte und die Schärpen des Hochzeitskleides werden von zwei Küchenjungen bzw. drei Zwerge getragen. Links von ihnen befindet sich ein weiteres Paar (Dornröschen: König und Königin; Sneewittchen: zwei weibliche Personen). Lediglich der rechte Bildabschnitt weicht erheblich voneinander ab. Im Dornröschenbogen marschieren Musikanten voran, im Sneewittchenbogen wird die Stiefmutter gefoltert.
Analysetabelle anzeigen …Sneewittchen | |
Subpanel 1: | Bildmittelpunkt (BM): Schnabel.
Fokus (F): Schnabel. Perspektive (P): Augenhöhe. |
Subpanel 2: | BM: Mutter.
F: Mutter. P: Augenhöhe. |
Subpanel 3: | BM: Förster.
F: Förster. P: Augenhöhe. |
Subpanel 4: | BM: Zwergenheim.
F: Sarg. P: Augenhöhe. |
Subpanel 5: | BM: Schneewittchen und verwandelte (Stief-)Mutter.
F: Schneewittchen und verwandelte (Stief-)Mutter. P: Augenhöhe. |
Subpanel 6: | BM: Glassarg.
F: Glassarg. P: Augenhöhe. |
Subpanel 7: | BM: Schneewittchen und Prinz.
F: Schneewittchen und Prinz. P: Augenhöhe. |
Subpanel 8: | BM: Brautpaar.
F: Brautpaar. P: Augenhöhe. |
Subpanel 9: | BM: Tote (Stief-)Mutter.
F: Tote (Stief-)Mutter. P: Augenhöhe. |
- Vgl. hierzu: Abt, Franz u. Hermann Francke: Sneewittchen. Ein Cyclus von 8 durch Declamation verbundenen Gesängen. Dichtung nach dem Märchen der Gebr. Grimm von Hermann Francke für Sopran, Mezzo-Sopran & Alt. (Soli & Chöre). Mit Pianoforte-Begleitung componirt von Franz Abt. Op 550. Offenbach 1880. ↵
- Unter dem Lemma Mockbuster versteht man einen Film, der durch Titel und ggf. Coverdesign etc. indirekt vorgibt, ein aktueller Blockbuster zu sein. ↵
- Vgl. Grimm, Albert Ludewig: Schneewittchen ein Mährchen. In: ders.: KinderMärchen. Mit einem Nachwort und Kommentaren von Ernst Schade. Hildesheim 1992. S. 1 – 76. ↵
- Vgl. Musäus, Johann Karl August: Richilde. In: ders.: Volksmärchen der Deutschen. S. 71 – 117. ↵
- Grimm, Jacob und Wilhelm: Schneeweißchen. Schneewittchen. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. Herausgegeben und kommentiert von Heinz Rölleke. Stuttgart 2007. S. 78. ↵
- Die Bezeichnung 2* verweist auf die Notwendigkeit einer mehrfachen Betrachtung des Bildes durch den Rezipienten. ↵
- Der goldene Apfel verweist zudem auf die griechische Göttin der Zwietracht, Eris (in der römischen Mythologie Discordia genannt). Mittels eines goldenen Apfels, auf dem „der Schönsten“ eingraviert ist, sähte sie Zwietracht zwischen den anwesenden Göttinnen, der von Paris geschlichtet wird, worauf ihm die schönste Frau der Welt (Helena) versprochen wird, was den troianischen Krieg auslöst. Vgl. Nünlist, René: Eris. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Herausgegeben von Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Band 4: Epo – Gro. Stuttgart 1998. S. 73. Und: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Ausgewählt von Hans Friedrich Blunck. Bayreuth 1989. S. 194. ↵
- Überdies beherbergen die Panels zwei weitere Zwerge, denn in (6) finden sich lediglich fünf. ↵
- Vgl. zum Verhältnis von Panelgröße und Zeit auch: Dammann, Günter: Temporale Strukturen des Erzählens in Comics. S. 91 – 101. und: Barbieri, Daniele: Zeit und Rhythmus in der Bilderzählung. S. 125 ‑141. ↵
- Der Begriff ‚Zwergenheim‘ wird im Sinne Eugen Drewemanns verwendet und beschreibt einen von extremer Sauberkeit sowie strenger Kontrolle und Angst geprägten Zufluchtsort. (Vgl. Drewermann, Eugen: Schneewittchen. Märchen Nr. 53 aus der Grimmschen Sammlung. Zürich u. Düsseldorf 1997. S. 52 – 58.) ↵
- In der handschriftlichen Urfassung von 1810 der Brüder Grimm bleibt die Haarfarbe des Mädchens unerwähnt: „Da wünschte sie und sprach: ach hätte ich doch ein Kind, so weiß wie diesen Schnee, so rothbackigt wie dies rothe Blut u. so schwarzäugig wie diesen Fensterrahm!“ [7. Grimm, Jacob und Wilhelm: Schneeweißchen. Schneewittchen. In: Kinder- und Hausmärchen. Die handschriftliche Urfassung von 1810. S. 75. ↵
- Grimm, Jacob und Wilhelm: Sneewittchen (Schneeweißchen). In: Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1812 – 15). Berlin 2016. S. 146. ↵
- Der Bogen wurde mir freundlicherweise von Herrn Dr. Bernhard Lauer von der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. zur Verfügung gestellt. ↵